Berlin - Wartburgstraße 54


„So, noch einen Absacker irgendwo?“ „Wein?“ „Ne, lass uns mal näher an die Wohnung ran“, wand Paddy ein, doch Ben zog eine Braue hoch. „Absacker, nicht Versacker!“ „Ja, doch!“ 

Sie tingelten weiter, sogar noch an ihrer Wohnung vorbei, bis Paddy vor einer großen Pinguinfigur aus Kunststoff stehen blieb. Sie trug eine rote Pudelmütze und passenden Schal und hielt eine Eistüte in der Hand. Das, wo sie stand, sah aus wir ein kleiner Vorgarten nur ohne Garten. Daneben standen drei niedrige Holztische, teilweise vor einem Strandkorb. Auf einem war ein Backgammon Brett aufgebaut und zwei Leute spielten. Neben dem Spielbrett standen je ein Glas Weißwein, auf deren Außenseiten sich Kondenswasser gebildet hatte. 

Hinter der Szenerie war eine eher unscheinbare verchromte Metalltür mit einem hölzernen, rot gestrichenen Altbaurahmen. Daneben befanden sich zwei große Fenster, eines, das zu öffnen war und eines mit einer Preisliste für Eis. 

„Pinguin Club“ stand auf einem Schild darüber. Der Eingang war etwas zurückgesetzt und in dem Moment, als Paddy gedankenverloren überlegte, ob er ein Eis zum Nachtisch lieber möchte als einen Absacker, kam ein eher kleiner Mann mit schulterlangen braunen und sehr lockigen Haaren heraus und schleppte den Pinguin hinein. Kurz darauf wurde er von innen vor der zu öffnenden Scheibe platziert. 

„Och, wird hier jetzt zugemacht?“, fragte Paddy einfach einen in die Jahre gekommenen Punk, der in einem der Strandkörbe saß. „Jo und ne“, war seine Antwort. 

„Chaos, sei nicht so wortkarg“, lachte der lockige Mann, der gerade wieder nach draußen kam, während er sich die Hände in seiner Schürze abwischte. 

„Bekomme ich noch ein Eis?“ 

Der Mann wiegte den Kopf hin und her. „Eigentlich nicht. Ab jetzt gibt es nur noch Bier und Schnaps.“ 

Paddy bekam große Augen und Ben große Ohren. „Das klingt auch gut“, fand Paddy und auch Ben war einverstanden. 

„Na, dann kommt mal rein, Jungs. Ich bin Gosto, der Chef.“ 

Ein Räuspern kam aus dem Strandkorb. 

„Okay, zusammen mit Chaos“, ergänzte er und deutete beim Hineingehen mit dem Daumen über die Schulter auf den Punk im Korb.  

Im Inneren der Kneipe war es so dunkel, dass man in kürzester Zeit vergaß, dass draußen noch helllichter Tag war. 

„So sucht euch was aus. An der Theke oder an einem Tisch. Ganz wie ihr wollt.“ 

Die Jungs waren sich einig und nahmen an der Theke Platz. Ganz in der Nähe von Gosto, der fleißig Gläser polierte. Sie, vor allem Paddy, hofften auf ein paar Insiderinformationen, denn die Kneipe sah nicht so aus, als sei sie neueröffnet worden. Die Farbe der Wände schien einer Art Orange zu entsprechen, aber genau ließ sich das bei dem schummrigen Licht nicht ausmachen. An der Decke hing eine 70er Jahre Discokugel, die Tische waren eher abgegriffen, in der Ecke stand einer, dessen Fuß das ausgediente Auto eines Autoscooters war. Die Wände hingen voll mit Bildern diverser Stars, die zum Teil hier ein- und ausgegangen sein sollen oder zumindest mal als Gast hier gewesen waren. Der Bereich hinter der Theke war verspiegelt und mit unzähligen gläsernen Regalen versehen, die über und über mit gefüllten Flaschen vollgestellt waren. 

„Was wollt ihr trinken?“, fragte Gosto und hielt inne. 

Paddy blähte die Backen. „Puh, das ist schwierig. Die Auswahl ist nicht gerade klein.“ 

„Über 150 Spirituosen. Wenn ihr dort nichts findet, das euch schmeckt, dann weiß ich auch nicht.“

„Überrasch mich!“, entschied Paddy und kurz darauf stellte Gosto zwei Longdrinks vor sie. Es schmeckte süß und als würde man ordentlich Prozente für seine Investition bekommen. 

„Lecker!“, fand Paddy und blickte den Inhaber fragend an. „Ihr seid also bis 19h etwa ein Eisladen und danach seid ihr eine Kneipe.“ „So ist es.“ „Abgefahren!“ 

„Macht ihr Urlaub?“, hakte Gosto neugierig nach. Paddy nickte, Ben schüttelte den Kopf. 

„Hauptsache, ihr seid euch einig“, lachte er. 

„Hier sind ja ziemlich viele Berühmtheiten gewesen“, bewunderte Paddy die Bilder an den Wänden und stieg wieder von dem Barhocker und betrachtete einige aus der Nähe. 

„Ja, das stimmt. Bowie und Iggy Pop haben hier gleich um die Ecke gewohnt, in der Hauptstraße. Rio Reiser in der anderen Richtung in der Großgörschenstraße. Und auch Bela B. von den Ärzten war hier mal Stammgast. Die haben hier auch ihre erste goldene Schallplatte gefeiert“, berichtete der Gosto stolz und Paddy nickte anerkennend, war sich aber nicht sicher, was davon wirklich den Tatsachen entspricht. Wobei, dass Iggy Pop und Bowie in Berlin gelebt hatten, wusste er tatsächlich auch selbst. 

Er fühlte sich sofort unglaublich wohl in dieser Kneipe, in der die Zeit irgendwie stehen geblieben war. 

Sie beließen es für diesen Abend tatsächlich bei diesem Absacker und machten sich wieder auf den Weg zu ihrer Unterkunft. 

„Wartburgstraße“, las Paddy vor, als er kurz vor dem Straßenschild stehen blieb. Das musste er sich dringend merken. Hier wollte er am nächsten Abend wieder hin. 


Am nächsten Morgen klopfte Ben an Paddys Tür, „Aufstehen! Wir müssen gleich los!“ „Hmh. Kaffee?“ „Wo soll ich denn hier Kaffee hernehmen?“ „Straße…“ 

Die Antwort waren flinke Schritte, die die Treppe hinabfolgten. Paddy wälzte sich von der viel zu weichen Matratze und stellte sich unter die Dusche. Als er am Spiegel vorbeikam, stellte er fest, dass er sich eigentlich rasieren müsste, doch das war ihm heute zu viel Aufwand und eigentlich konnte ein Drei-Tage-Bart auch von Vorteil sein. 

Als er wieder aus der Dusche stieg, klopfte es erneut an die Tür. „Zimmerservice.“ 

Er schlang sich ein Handtuch um die Hüfte und öffnete. Ein dampfender und überaus gut duftender Pappbecher wurde ihm direkt unter die Nase gehalten. 

„Okay, du kannst reinkommen“, gestattete Paddy und nahm das Getränk entgegen. „Du bist immerhin jetzt schon mein Held des heutigen Tages!“ „Der Tag fängt gerade erst an. Wer weiß, wer dir heute noch alles begegnet.“ „Das stimmt natürlich. Himmel, das ist ja erst 10 Uhr!“ „Gute Zeit, um gleich aufzubrechen!“ „Wieso hast du es denn so eilig?“ „Ich hab mit Gangway telefoniert. Die meinten, dass es ein Team in Mitte gibt, das heute um 13h am Alexanderplatz und dort in der Umgebung aktiv ist. Da wollte ich anfangen.“ „Alexanderplatz! Den kenn ich!“ „Sehr gut!“ „Aber dann sind wir wirklich noch gut in der Zeit!“ „Lass uns doch trotzdem gleich los. Wir sind nicht zum Schlafen hier.“ „Das stimmt. Ich bin gleich so weit. Danke für den Kaffee!“ 

Ausnahmsweise brauchte Paddy wirklich nicht lange, um abmarschbereit zu sein. „Wie finden wir jetzt heraus, wo wie wir dort hinkommen?“ 

Wie eine Siegestrophäe hielt Ben einen Flyer von der BVG - der Berliner Verkehrsgesellschaft - in die Höhe. „Lag beim Bäcker aus. Da ist ein Plan drin.“ Sie setzten sich hin und versuchten, aus ihm schlau zu werden. „Also laut Stadtplan sind wir etwa hier in der Nähe der U3. Damit fahren wir zum Kottbusser Tor, wo wir in die U8 Richtung Wittenau steigen und bis zum Alexanderplatz fahren.“ „Ok.“ „Halt, warte! Wir können auch bis zum Nollendorfplatz laufen. Das ist in der Nähe vom Winterfeldplatz. Das ist dort, wo wir gestern waren.“ „Und wo ist der Vorteil?“ 

Paddy begann, albern zu grinsen. „Wir müssten nicht umsteigen, weil wir mit der U2 - haha U2 wie die Band - und dann Direkt zum Alexanderplatz durchfahren können. Außerdem müssen wir die nehmen, die Richtung Pankow fährt!“ Er zog beide Augenbrauen hoch, während er weiter aufgedreht grinste und in Bens Gesicht auffordernd nickend nach einem Zeichen des Wiedererkennens suchte. Dann schnappte er sich seinen Hut von der Stuhllehne, zog ihn sich ins Gesicht und fing an zu singen. „Entschuldigen Sie, ist dies der Sonderzug nach Pankow? Ich muss mal eben dahin. Mal eben nach Ost-Berlin!“

Ben hatte sich auch einen Kaffee mitgenommen, nahm einen Schluck und schlug Paddy lässig mit der Hand vor auf die Hutkrempe, so dass er wirklich nichts mehr sehen konnte.“ 

„Ey!“, beschwerte er sich und nahm den Hut vom Kopf. 

„Komm, Udo, auf zum Nollendorfplatz! Dort, wo es den Kaffee gab, können wir uns auf dem Weg noch ein belegtes Brötchen holen. Es sei denn, du willst irgendwo hin, um zu frühstücken?“ „Nein. Belegte Brötchen auf die Hand sind gut. Dann mal los.“ 

Ohne die ganze Zeit nach Restaurants zu suchen, brauchten sie keine zehn Minuten zu Fuß inklusive des Einkaufs der Marschverpflegung. 

„Musstest du unbedingt deine Gitarre mitnehmen?“ Skeptisch blickte Ben beim Laufen über den Rand seines Pappbechers, von dem er inzwischen den Plastikdeckel entfernt hatte, und trank einen Schluck Kaffee. 

„Ja.“ „Weiber abschleppen?“ 

Aber Paddy kam nicht zum Antworten. „Oh, da kommt der Zug!“, jubelte er und nahm sein Instrument von der Schulter. 

„Du wirst jetzt nicht schon wieder das Lied singen…“ Ben schwante Übles. 

„Keine Sorge“, lachte Paddy, stieg ein und suchte sich einen Platz. „Ich hab nur gedacht, dass es vielleicht nett wäre, nachher ein wenig in der U-Bahn Station zu spielen. Nein, nicht dieses Lied, eigene Sachen. Oder vielleicht für die Leute, mit denen die Gangway arbeitet. Die Damen und Mädels auf den Bürgersteigen. Glaubst du, die würden sich freuen?“ 

Dieses Mal klang es nicht nach fishing for compliments sondern nach einer ehrlich gemeinten Frage. Ben überlegte kurz. „Ja, ich glaube, die ein oder andere würde es toll finden, ein bisschen Abwechslung vom grauen Alltag zu haben. Aber persönlich kenn ich die hier nicht. Aber in Köln könnte ich es mir bei manchen vorstellen, warum sollte es hier so viel anders sein?“ 

Paddy nickte und lehnte sich zurück. 

Als sie ankamen und ausstiegen, sah Ben sich suchend um. „Ich muss dringend Kaffee wegbringen. Warte kurz und tu nichts, was ich nicht auch tun würde!“ „Ja doch. Bis gleich.“ 

Als Ben zurückkam stand Paddy an der gleichen Stelle wir zuvor, doch nun blätterte er in etwas. 

„Was hast du da?“ „Reiseführer. Hab ich da hinten gekauft.“, antwortete er, ohne aufzublicken, nickte aber mit dem Kopf in eine Richtung. „Ich will nichts verpassen! Ich war so oft hier und hatte nie Zeit für sowas. Nun benötige ich einen Überblick. Wir sind viel zu kurz hier für diese phantastische Stadt! Ich muss das Wichtigste herausfiltern.“ „Das kann bis später warten. Komm!“ Ben klopfte Paddy auf die Schulter, woraufhin dieser das Buch zuklappte und ihm folgte. 

Als sie unter freiem Himmel traten, schien ihnen die Sonne ins Gesicht.

Auf dem Platz plätscherte das Wasser im Brunnen und auf seinem Rand drängten sich Menschen aneinander. Manche redeten miteinander, andere telefonierten, einige beobachteten, wie die Leute vorbeieilten oder -schlenderten und wieder andere hielten einfach nur der Sonne ihr Gesicht entgegen. 

„Was für ein toller Brunnen!“, schwärmte Ben und Paddy nickte. „Der ‚Brunnen der Völkerfreundschaft‘. Noch ein Bauwerk der DDR, wie viele Dinge hier“, wusste Paddy zu berichten, dann schlug er etwas in dem Reiseführer nach. „Der steht seit rund 32 Jahren hier. Das eigentlich noch berühmtere Stück, die Weltzeituhr, ist sogar noch ein Jahr älter.“ 

Allerdings war es auch einer der meistbesuchtesten Plätze in Europa. Trotz seiner kurzen Haare bemerkte Paddy, wie die Zahl der Jugendgruppen zunahm. Na klar, der Alex war Pflichtprogramm, mit seinen historischen Sehenswürdigkeiten, wenn man in der Hauptstadt zu Besuch war. 

„Du, Ben, ich glaube, ich fahre sonst erst mal weiter. It´s a bit crowded.“ „Wo willst du denn hin?“ 

Paddy zuckte die Achseln. „Madame Tussaud?“ „Und du glaubst, da ist weniger los?“ „Ich würde das gerne sehen und vielleicht habe ich um diese Uhrzeit noch Glück.“ „Ich komme mit. Wir sind ohnehin viel zu früh. Wir oder meinetwegen ich komme sonst später noch mal her. Weißt du, wie wir da hinkommen?“ „Klar! U5, 6 Minuten Fahrt und Zack sind wir da! Berlin ist so toll!“ 

Ben schnaubte verächtlich. „Schon, aber du tust so, als wenn du aus der tiefsten Provinz kommst!“ „Ich habe in der Provinz in Spanien gelebt!“ „Ja, kürzlich…“ „Okay, das vielleicht nicht“, lenkte Paddy ein und grinste. „Irgendwie mag ich diese Stadt einfach! Sie ist so voller Vergangenheit! Hier hat sich Weltgeschichte abgespielt! Hier war die Welt geteilt, quasi der Nabel des kalten Krieges!“ „Das stimmt“, gab Ben zu, auch wenn er nicht ganz so geschichtsbesessen war, hatte es ihm die Stadt auch angetan. 

Wie Paddy prophezeit hatte, waren sie ziemlich schnell an der Station „Unter den Linden“ angekommen. Vor der Tür war eine kurze Schlange und sie nahmen an, dass viele bei dem Wetter an den Seen oder im Park waren. Als sie die Kasse passiert hatten, stellten sie fest, dass dies leider nicht ganz so den Tatsachen entsprach. Einige waren offenbar auch einfach schon drinnen. 

Sie versuchten einigermaßen Abstand zu vorherigen Gruppen einzuhalten, mussten aber auch sehen, dass ihnen die nachfolgenden Leute nicht im Nacken sitzen würden.

Paddy hatte an sich nichts gegen Fans. Natürlich nicht, nur durch sie konnte er leben, naja, oder zumindest Geld verdienen. Aber jetzt wollte er tatsächlich einfach nur Urlaub machen und da würde er es durchaus vorziehen, seine Ruhe zu haben. Eine ganze Weile kamen sie gut durch, bewunderten Filmstars, flachsten neben Politikern herum, entdeckten die tollsten Figuren, bis Paddy sich plötzlich eingezwängt sah zwischen zwei Gruppen. Die eine wollte nicht weitergehen, die andere kam immer näher. Das schlimmste daran war, dass er hörte, wie einige Mädchen und auch der Lehrer der nachfolgenden Gruppe über das LaPatata Album sprachen und darüber, dass die Kelly Family schon längst einen Platz bei Madame Tussaud verdient hätte. Geistesgegenwärtig stellte er sich einfach zwischen zwei Figuren, neben denen er gerade stand und versuchte, so unbeweglich wie möglich zu stehen. 

Es war nicht eindeutig, ob es Paddy oder Ben schwerer fiel, sich zusammenzureißen, als sich zwei Mittvierziger Lehrerinnen näherten.

„Ey, Melli! Guck ma hier! Dat is doch der Paddy Kelly! Ich wusste nich, dass die die Kellys jetzt doch hier ausstellen!“ „He, Tine, mach ma ein Foto von uns, während ich meinen Arm um ihn lege!“ 

Es war nur eine winzige Regung in Paddys Gesicht zu erkennen, doch Ben sah die aufsteigende Panik, als die kräftig gebaute Frau mit ärmellosem Top und schlecht rasierten Achseln sich ihm zuerst näherte. „Los, Tine, dat wird super!“ 

Ben konnte nicht anders und machte einen Satz vor Paddy. Abwehrend hob der die Hände, um das Vordringen der beiden Frauen zu verhindern. 

„Entschuldigung, das geht leider nicht. Wir sind hier noch nicht ganz fertig. Bitte nicht anfassen, die Figur ist noch nicht am endgültigen Bestimmungsort und daher noch nicht ausreichend gesichert. Wenn die umfällt, wird es teuer!“

„Oh, ne dat wolln wir natürlich nich! Aber doll sieht der aus! Wie richtig echt!“, staunte Melli und Tine nickte. „Man könnt meinen, dass der gleich losläuft.“ 

Ben nickte verständig. „Ja, wir haben schon die besten Künstler der Welt hier, um unsere Figuren zu erschaffen. So, aber wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, weiterzugehen.“ „Natürlich. Ich hatte mich schon gewundert, was der Paddy Kelly hier zwischen den Fussballern macht!“, lachte Tine und die Lehrerinnen und ihre Klasse gingen weiter. Als sie endlich um die Ecke waren, ließ Paddy locker, doch selbst dann konnte er nicht ausgelassen loslachen, so wie er es gerne getan hätte. 

„Raus?“, fragte Ben und Paddy nickte angespannt, dann rannten sie mehr oder weniger los. Als sie draußen ankamen, prusteten die beiden los und es gab kein Halten mehr. 

„Ben, du bist der absolute Hammer! Dafür geb ich dir einen aus! Komm, so viel Zeit haben wir jetzt nicht schinden können, dann lass uns doch irgendwo hier ein Bierchen trinken!“ „Das ist ein Wort!“, rief Ben fröhlich und schlug Paddy schwungvoll auf die Schulter, während dieser wieder in seinem Reiseführer blätterte. Schließlich tippte er überzeugt auf einen Eintrag. 

„Die ‚Ständige Vertretung‘! Da gehen wir hin. Das ist hier gleich um die Ecke und dort gibt es sogar Kölsch!“ „Och nö! Jetzt drückst du dich auch schon vor richtigem Bier…“ 

Doch echten Widerstand leistete Ben nicht und so saßen sie bald darauf am Tresen und erfrischten sich an dem kühlen, doch recht wässrigem Getränk. „Wo genau war jetzt der Unterschied zwischen dem Kölsch und dem Kölsch alkoholfrei?“. Fragte Ben spitz und betrachtete skeptisch den Inhalt seines Glases. Paddy verdrehte die Augen und antwortete nicht. 

„Willst du etwas essen?“, fragte er stattdessen und reichte Ben die Karte. Ben entschied sich für Fisch, wo das Lokal doch praktisch direkt an der Spree lag. Paddy konnte sich nicht entscheiden und schlug die Karte erneut auf. „Nehme ich den Burger oder doch einen Flammkuchen?“ „Klingt beides gut. Was man unter einem Bacon Chutney verstehen soll, klingt auch spannend. Aber ich glaube, ich nehme doch lieber den Flammkuchen mit Spinat und Tomaten.“

Als das Essen kam, hatten sie sich nicht zu viel versprochen. Es schmeckte sehr gut und Paddy war froh, dass die Diskussion um das Essen nicht so ausartete wie am Vortag. 

Dann wollte Ben zurück an den Alex. Paddy lehnte jedoch ab. Ihm waren doch tatsächlich zu viele Schulklassen hier unterwegs und er wollte sich lieber woanders hin auf den Weg machen. Er könnte zum Beispiel in den Zoo gehen, aber vermutlich war das um diese Uhrzeit auch nicht die beste Idee. Er zog seinen Hut tief ins Gesicht und machte sich auf den Weg zum Tiergarten. Kein Zoo, aber ein großer Park. Da würde er schon irgendwo ein ruhiges Eckchen für sich und seine Gitarre finden. 

Er musste ein Stück laufen, aber das störte ihn nicht. Er hatte es ja nicht eilig. Er hatte seine Gitarre auf dem Rücken, ein Buch in der Tasche und die Sonne im Gesicht. Außerdem hatte er Urlaub. Konnte es ihm besser gehen? 

Naja, vielleicht wenn Luna hier wäre. Aber sicher war er sich nicht. Er kannte sie ja kaum, vielleicht waren sie gar nicht gut darin, zusammen zu urlauben. Vermutlich würden sie gar nicht aus dem Bett herauskommen und dann hätten sie auch zu Hause bleiben können. Nein, es war schon besser, dass Luna nicht mitgekommen war. 

Im Park fand er einen See, an dessen Ufer er sich setzte und die Gitarre auspackte. Sein Hut schirmte ihn gefühlt von der Umgebung ab und schützte ihn zumindest ein wenig davor, allzu schnell erkannt zu werden. 

Er ließ die Füße ins Wasser baumeln und begann mit verschiedenen Melodien herumzuspielen. Singen tat er nicht. 

Es dauerte nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde, als sich plötzlich ein Mädchen neben ihn setzte. „Hi.“ 

Irritiert hörte Paddy auf zu spielen. „Hi. Kann ich dir helfen?“ „Kann ich hier sitzen bleiben und ein wenig zuhören?“ 

Paddy grinste und nickte, dann spielte er und beobachtete verstohlen, wie sie ihre nackten Füße in das Wasser steckte, das die Sonne im flachen Uferbereich angenehm erwärmt hatte. Zwischendurch plätscherte sie ein wenig mit den Zehen und hin und wieder merkte er, wie sie seine Finger beobachtete. 

„Das ist schön“, stellte sie unaufdringlich fest. „Hast du dir das selbst ausgedacht?“ „Ja.“ Er legte den Kopf ein wenig schief und musterte sie. Auch sie trug einen Hut, seinem recht ähnlich, dazu eine verwaschene Blue Jeans, die unten am Saum recht ausgefranst war und an den Knien so zerschlissen, dass die Haut durchschien und als sie das eine Bein anstellte, guckte sogar das Knie durch das Loch. Er mochte das. Sie trug ein weißes T-Shirt mit sehr kurzen Ärmeln, welches deutlich werden ließ, wie schlank sie war. Ihre Haare waren goldblond und zu einem Knoten hinten am Kopf verwuschelt. Schuhe trug sie keine und schien sie auch nicht dabei zu haben und die sonnengebräunte Farbe ihrer Fußrücken verriet, dass sie offenbar häufiger barfuß lief, dennoch wirkten ihre Füße gepflegt und an dem einen Knöchel drug sie ein geflochtenes blau-grünes dünnes Freundschaftsbändchen. 

Sie hatte große blaue Augen und ein freches Grinsen, als sie merkte, wie er sie taxierte. Ihre Blicke trafen sich, er lächelte zurück und es war, als würde er von ihrem Licht getroffen werden. Wie ein stilles Photon, das seine Energie an ihn übertrug. 

Plötzlich hörte er ein schrilles Pfeifen und sie reagierte darauf, in dem sie sich umdrehte. Zunächst amüsierte er sich darüber, doch dann hob sie einen Arm und winkte zum Zeichen des Erkennens. 

„Ich muss los! Danke, dass ich zuhören durfte! Tschüß!“ 

Auch Paddy hob die Hand. „Tschüß“, verabschiedete er sich ebenfalls. 

Schade, dass sie weg war. Sie war ihm irgendwie sympathisch gewesen. 

Er blieb noch eine Weile sitzen, spielte probierte und entwickelte, ohne noch einmal unterbrochen zu werden. 

Nach zwei Stunden klingelte Bens Handy. „Wie weit bist du?“ „Ich hab mit Sarah und Tino gesprochen, zwei Kollegen vom Team Drop-in Mitte. Sie selbst konnten mit ihrer Beschreibung nichts anfangen. Aber sie haben mir noch andere Orte genannt, an denen ich mehr Glück haben könnte. Da wollte ich gleich mal hin. Willst du mit?“ „Ich bin hier gerade im Park. Ich glaube, Tiergarten oder so, heißt der. Eigentlich ist es ganz schön. Sag doch einfach Bescheid, wenn du fertig bist. Dann können wir zusammen weiter die Stadt erkunden.“ „So machen wir das!“ 

Als er das nächste Mal etwas von Ben hörte, war es nach 20h. 

„Hey, wo bist du?“ „Immer noch im Park.“ „Wollen wir uns irgendwo treffen?“ „Akazienstraße, Inder?“ „Welchem?“ „Dem direkt bei der Unterkunft. Ich glaube, ich hab heute ein wenig zu lange in der Sonne gesessen. Trotz Hut.“ „Oh je. Na dann bis gleich.“ 

Paddy packte die Gitarre ein, setzte sich in die Bahn und es dauerte nicht lange, bis er im Akazienkiez angekommen war. 

Ben stand neben dem Eingang und hatte bereits die außen angebrachte Karte studiert. „Klingt ganz nett“, kommentierte er und hielt Paddy die Tür auf. Das Interieur sah so klischeebehaftet aus wie praktisch jeder andere Inder. 

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster und Ben bestellte ungefragt zwei Mal Chicken Madras und zwei Wasser. 

Das Essen war lecker, auch wenn Paddy sich für etwas anderes entschieden hätte. 

„Hast du sie gefunden?“, fragte er, als sie sich über ihre Teller hermachten. 

Kauend schüttelte Ben den Kopf. „Morgen gehts weiter. Berlin ist groß. Es gibt nicht wenige Möglichkeiten.“ „Wenn sie denn überhaupt noch hier ist.“ „Das stimmt. Aber noch bin ich hier und werde es weiter versuchen.“ 

Nach dem Essen beschlossen sie, auf einen Absacker erneut in den Pinguin zu gehen. 

Draußen saß Chaos in seinem Strandkorb und grüßte beiläufig. 

„Tach, Gosto“, begrüßten sie drinnen den Barkeeper fröhlich und wurden mit einer kurz erhobenen Hand empfangen. Offenbar war er gerade beschäftigt damit, etwas auf einen Zettel zu schreiben. 

Ben setzte sich an die Theke, Paddy daneben, versuchte sich aber unauffällig zu strecken, um zu sehen, was er dort tat. Es sah nicht aus, als würde er für sich selbst Notizen machen. Dafür gab er sich viel zu viel Mühe, sauber zu schreiben. 

Als er zufrieden wirkte, nahm er den Zettel und ein Stück Tesafilm und klebte ihn an die geöffnete Tür, so dass jeder, der in die Kneipe kam, daran vorbei musste. Paddy stand auf, folgte ihm und blickte ihm über die Schulter. Kaum hatte Gosto die Arme sinken gelassen, streckte Paddy seinen aus und riss den Zettel wieder ab. „Ben, ich zieh um!“ 

Vor Schreck wäre dieser beinahe von seinem Hocker gefallen. „Du tust was?!“ „Ich ziehe um!“ Er hielt ihm den Zettel von Gosto entgegen, auf dem nach einem Mieter gesucht wurde. 

„Aber du kannst doch nicht einfach umziehen?!“, erwiderte Ben entrüstet. 

„Du erzählst mir drei Mal die Woche, dass ich woanders hinziehen soll!“ „Ja, aber doch nicht gleich in eine andere Stadt, in ein anderes Bundesland!“ „Tja…“ 

Gosto, der gerade hatte protestieren wollen, als Paddy den Zettel mir nicht dir nichts wieder entfernt hatte, stemmte nun die Hände in die Hüften. „Soso, du willst also in diese Wohnung ziehen?“ „Ja, wenn das geht.“ 

„Hm. Setz dich erst mal.“ 

„Machst du mir bitte ein großes Pils?“, bat Ben.  „Mir auch“, ergänzte Paddy, nahm wieder an der Theke Platz und blickte immer wieder auf die Anzeige in seiner Hand. „Suchst du einen Nachmieter?“ „Nicht für mich. Mir gehört die Wohnung nur.“ „Ach komm, Gosto, willst du nicht mein zukünftiger Vermieter sein?“ 

„Hast du ein regelmäßiges Einkommen?“ 

„Hm, naja, regelmäßig ist relativ. Aber es kommt immer wieder Geld rein.“ „Ich hoffe, dass es nichts Illegales ist?“ „Nein, das ist es nicht.“ „Was machst du denn?“ „Ich bin Musiker.“ „Und davon kannst du leben?“ „Schon recht gut, ja.“ 

Ben stöhnte genervt. „Meine Fresse! Jetzt sag ihm endlich, wer du bist!“ 

Gosto blickte verwirrt von einem zum anderen. „Wie meint er das?“ 

Paddy zuckte die Achseln. „Ich bin Paddy Kelly, geboren als Michael Patrick Kelly.“ „Von dieser singenden Altkleidersammlung?“ „Genau von der!“ Paddy reckte sich stolz trotz aller Probleme. 

„Aber die haben doch alle lange Haare, dachte ich.“ „Tja, nicht mehr alle.“ 

„Willst du dir die Wohnung vorher nicht wenigstens noch mal ansehen?“ „Ja, schaden kann das wohl nicht. Wann ginge, denn das? Und wo ist die genau?“ 

„Ist sie im fünften Stock?“, unterbrach Ben die beiden. 

„Ist egal“, warf Paddy ein. 

Gosto ignorierte die beiden. „Hier im Haus. Zweite Etage. Küche, Bad, Klo auf halber Treppe?“ „Klo auf halber Treppe?“ Paddy machte große Augen und begann doch zu zweifeln. „Nur ein Scherz. Es gibt ein Klo auf halber Treppe, das wird aber nicht mehr benutzt. Das kannst du als Abstellkammer nehmen. Zweieinhalb Zimmer, Balkon.“ „Ich nehm sie!“ 

Doch Gosto schüttelte abermals den Kopf. „Komm, wir sehen sie uns an!“

Ben konnte gar nicht so schnell gucken, wie Paddy von seinem Barhocker gesprungen war. „Kommst du mit?“ Ben schüttelte den Kopf und hielt sich an seinem Bier fest, das Gosto ihm inzwischen gereicht hatte. 

„Jetzt sei nicht so feminin!“, maulte Paddy.

„Wieso denn feminin?“ „Heul nicht, wie ein Mädchen!“ „Ich heul nicht!“ „Tränenlos!“ 

Ben ließ sich nicht umstimmen. 

Gosto ging kurz in sein Hinterzimmer und holte den Schlüssel, dann gingen sie raus zur Haustür und er schloss auf. Ein typischer Berliner Altbaugeruch drang Paddy entgegen. Sie folgten den Stufen der Terrazzostufen in den zweiten Stock, wo zwei Türen waren und Gosto die linke davon öffnete. Es standen einige Umzugskartons und ein altes Sofa herum, insgesamt wirkte es aber unbewohnt. 

„Minna ist noch nicht ganz raus. Wenn du aber immer noch Interesse haben solltest, kann ich sie anrufen und fragen, wann die Wohnung frei ist. Hast du eine Kündigungsfrist?“ „Ja, aber das ist egal. Sonst zahle ich erstmal doppelt. Und im Prinzip habe ich auch keinen Zweifel, dass ich schnell einen Nachmieter finde.“ 

Der Balkon war fabelhaft. Er zeigte allerdings direkt auf den Bereich vom Pinguin raus, was sowohl Vor- als auch Nachteile bot. 

Die Wohnung hatte die typischen hohen Decken und war gut geschnitten. Das Badezimmer bot echten Altbaucharme, was Paddy nicht störte, nur vor der Badewanne blieb er skeptisch stehen. „Die ist aber reichlich klein“, dachte er laut, aber Gosto zuckte mit den Schultern. „Für dich dürfte das reichen.“ Er deutete auf einen Haken in der Wand. „Minna hatte sich eine Halterung angebaut, dass sie auch hier drin duschen kann.“ 

Paddy überging zähneknirschend seinen Kommentar. „Ich nehme sie.“ „Die Wanne?“ „Und den ganzen Rest.“ Dann streckte er den Arm aus und sie besiegelten es mit einem Handschlag, bevor Gosto ihm die Schlüssel überreichte. 

„Warte, ich ruf Minna kurz an.“ 

Er ging auf den Balkon und kam wenige Minuten später zurück. „Du kannst nächstes Wochenende rein, wenn du willst. Allerdings wird die Wohnung nebenan auch frei. Die geht zum Innenhof raus. Willst du die auch sehen? Da hab ich aber keinen Schlüssel gerade, sie ist aber abgesehen vom Balkon gleich geschnitten, nur gespiegelt.“ „Hier werden gleich zwei Wohnungen frei?“ „Lass uns runtergehen, ich muss wieder in den Laden. Ja, Minna hat ihren Freund hier im Haus kennengelernt. Der wohnt nebenan. Die wollten jetzt in seiner Wohnung zusammenziehen, aber er hat ein Jobangebote in Köln, jetzt wollen die dorthin ziehen, sobald sie was gefunden haben. Also für die andere Wohnung haben sie noch kein Datum.“ 

Paddy kicherte. „Ich wohne in Köln. Da wird also bald eine Wohnung frei.“ 

Gosto lachte. „Also manchmal passt es einfach. Ich geb dir einfach mal ihre Nummer, dann könnt ihr das direkt abklären.“ 

Sie betraten wieder den verrauchten Bereich des Pinguin und Paddy nahm neben Ben und seinem leeren Bierglas Platz.

Brüderlich legte er ihm seine Arm auf die Schulter. „Homie, du ziehst nach Berlin.“

Ben runzelte die Stirn. „Ne, bestimmt nicht.“ „Ich dachte, du magst Berlin.“ „Ja, aber ich ziehe nicht mit dir zusammen und darf dann die Wohnung sauber halten!“ „Stimmt. Aber zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad? Wie klingt das für dich?“ „Prinzipiell gut, aber nicht mit dir zusammen.“ „Die Wohnung neben dieser Wohnung wird auch frei.“ Paddy feixte wie ein kleines Kind, doch die erwartete begeisterte Reaktion blieb aus. „Ich kann nicht einfach umziehen. Ich hab einen Job!“ „Meinst du ernsthaft, die haben keinen Bedarf an Streetworkern hier?“ „Doch vermutlich schon. Aber ey nee! So spontan bin ich nicht!“ 

Paddy zuckte die Achseln. „Ich fand die Idee gut.“ „Hm…“ 

Beide tranken einen Schluck Bier. Paddys Grinsen wurde wieder breiter. Er fing an auf seinem Stuhl an zu tanzen und dabei zu singen. „Ich ziehe nach Berlin, ich ziehe nach Berlin!“

Ben schnaubte und trank sein Glas leer. „Wie willst du das eigentlich deiner Familie beibringen?“

Paddys Euphorie starb. „Keine Ahnung. Vielleicht gar nicht.“ „Der Plan geht nicht auf.“ „Ich fürchte, du hast recht. Aber im Endeffekt ist es meine Sache, solange ich zu den Terminen auftauche.“ „Wann willst du umziehen?“ „Nächstes Wochenende“, antwortete Paddy ohne zu zögern. Wobei er jedoch zögerte, war Ben eine Frage zu stellen. „Würdest du mir helfen?“ 

Ben warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Natürlich.“ „Danke, Homie.“ 



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