Familienbande

 

Es war sehr spät, als Mel von Hunger heimgesucht wurde. Paddy war eingeschlafen und auch Merlin schlummerte vor sich hin.

Als sie es nicht mehr aushalten konnte, raffte sie sich auf und öffnete leise die Tür.

Alles war düster und völlige Stille herrschte im Schloss.

Sie fühlte sich unwohl. Wenn es ging, vermied sie Dunkelheit, aber sie wollte auch keine Festtagsbeleuchtung einschalten, nur um kurz in die Küche zu laufen.

Langsam setzte sie im Schein des Mondes, der durch die Fenster fiel, einen Fuß vor den anderen. Obwohl es draußen noch warm war, fühlte sich der Steinboden unter ihren nackten Fußsohlen eisig an.

Die Treppenstufen waren schlecht zu erkennen, aber sie beschloss immer noch, das Licht aus zu lassen. Vorsichtig betrat sie die erste Stufe und kam endlich sicher unten an.

Sie sollte morgen aber dringend bei den anderen anregen, dass sie Nachtlichter installieren lassen sollten. Und wenn es nur so kleine für die Steckdosen wären.

Sie hatte die Küche schon im Auge, da stockte ihr der Atem, als sie eine kalte Hand auf der Schulter spürte.

Ein gellender Schrei entwich ihrer Kehle, während sie in sich zusammen fuhr. Gleichzeitig stieg ihr Puls in ungeahnte Höhen und das Herz rutschte ihr in die Hose.

Gröhlendes Gelächter brach über sie herein, als Jimmy sich zu erkennen gab und sich vor lachen krümmte. Wenn ihr Entsetzensschrei nicht schon das ganze Schloss geweckt hatte, tat dies nun sein übriges.

„Bist du bescheuert?!“ schrie sie ihn an, nachdem sie sich erschrocken zu ihm umgewandt hatte. - „Hey, bleib mal locker. Ein bisschen Spaß muss sein.“ japste er vor Vergnügen. - „Das ist nicht witzig!“ keifte sie weiter. - „Doch das ist es.“ lachte er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. - „Schön, dass wenigstens einer von uns das so sieht...“

Sie wandte sich wieder um und ging nun zügigen Schrittes in die Küche. Jetzt zögerte sie nicht mehr lange und schaltete das Licht an.

Gereizt riss sie den Kühlschrank auf, nahm sich die Milchpackung heraus und machte sich einen Kakao, um die Nerven zu beruhigen.

Jimmy war ihr gefolgt und stand immer noch grinsend in der geöffneten Tür. „Ey, bist du wirklich sauer?“ - „Mmmmh...“ brummte sie, sich nicht sicher, was sie antworten sollte. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu, während sie an ihrem Becher schlürfte. Es war ja fast niedlich, wie er sich wie ein Kind freute.

Langsam fiel die eben aufgekeimte Wut von ihr ab. Aber ihre Unterlippe war nach wie vor leicht beleidigt vor geschoben, als sie sich zu ihm umdrehte.

„Nun lächel doch mal wieder.“ Er knuffte sie sanft mit der Faust gegen den Oberarm. - „Ach...“ schnaufte sie, hatte aber mittlerweile Schwierigkeiten, ernst zu bleiben und ihre Mundwinkel verzogen sich ein Stückchen nach oben.

„Siehst du, geht doch.“ - „Hm, aber kannst du dir nicht mal ein anderes Opfer suchen?“ - „Ich werde mich bemühen.“ Er zwinkerte ihr zu und setzte sich mit einer Schale Müsli an den Tisch. - „Was ist denn hier los?“ fragte Paddy, der plötzlich in der Tür stand. „Hab ich dich nicht gerade schreien gehört?“ - „Ja.“ - „Warum?“ - „Frag mal deinen Scherzkeks von Bruder. Jimmy, ich sage es ja nicht gern, aber manchmal denke ich, es wäre stressfreier, wenn du in Irland geblieben wärst.“ Diesmal zwinkerte sie ihm zu.

„Oh Mann...“ Pad schüttelte nur den Kopf und nahm sich ebenfalls etwas Müsli.

„Würdest du es wirklich besser finden, wenn ich weg geblieben wäre?“ hakte Jimmy nach und lächelte schief. - „Nein, natürlich nicht.“ gab sie zu und wuschelte ihm sanft durch die kurzen Haare.

Paddy räusperte sich. „Leute, ich bin auch noch hier.“ grummelte er scherzhaft und zog Mel auf seinen Schoß. „Flirten könnt ihr, wenn ich draußen bin.“ - „Ich flirte gar nicht!“ protestierte Mel lautstark, konnte jedoch einen Hauch von Rosa auf ihren Wangen nicht verhindern.

Schnell drehte sie sich auf Pads Schoß weiter zu ihm um und küsste ihn hastig.

„Bah, du solltest vielleicht doch erst deinen Mund leer essen.“ stellte sie gespielt angewidert fest und tat, als würde sie etwas ausspucken. - „Ich kann doch nichts dafür, dass du so stürmisch bist, nur weil du dich ertappt fühlst.“ - „Tu ich gar nicht.“ widersprach sie weiter und versuchte ihm ernsthaft in die Augen zu sehen. - „Nicht? Ich hatte so den Eindruck.“ murmelte er und schob sich einen weiteren Löffel Müsli zwischen die Zähne.

Mel antwortete nicht, doch Jimmy stand nun mit verschränkten Armen an die Anrichte gelehnt und grinste frech.

Erst erwiderte Paddy sein Lächeln, doch dann wurde sein Gesicht ernst.

Würde sie so weit gehen und mit seinem eigenen Bruder etwas anfangen? Immerhin war sie ihm schon einmal untreu geworden. Auf der anderen Seite wusste sie genau, dass er ihr so etwas nicht noch einmal verzeihen würde.

Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Nein, eigentlich glaubte er das auch nicht, allerdings war ihm diese Schäkerei zwischen den beiden unheimlich. Und sie hatten sich schon immer gut verstanden, vor allem seit er im vorigen Jahr auf einmal verschwunden war.

Er schnaufte leise und leerte seine Schale.

„Ich geh wieder ins Bett.“ erklärte er und schob Mel von seinem Schoß, bevor er aufstand. - „Ich komme mit. Und weich mir bloß nicht von der Seite, nicht dass noch einer deiner aberwitzigen Geschwister versucht, mich zu Tode zu erschrecken.“ Sie warf noch einen amüsierten Blick über die Schulter zu Jimmy, während sie ihrem Freund aus der Küche folgte.

Den nächsten Tag verbrachten sie hauptsächlich damit, weiter Kisten auszupacken.

„Pad, ich hab kein Bock mehr!“ stöhnte Mel, ließ sich rückwärts gegen die Wand fallen und rutschte daran herunter. - „Ich habe auch die Schnauze voll!“ maulte auch er. - „Hey, achte auf deine Ausdrucksweise! Wir haben jemanden, der sehr aufmerksam zuhört. Nicht, dass sein erstes Wort irgendwann „Schnauze“ ist.“ kicherte sie und nickte zu Merlin hinüber, der wieder auf der Decke lag und den beiden zusah. Er streckte seine kleinen Ärmchen durch und stemmte den großen Kopf ein Stück nach oben, als wollte er verhindern, dass er irgendwas verpassen könnte. Er brabbelte fidel vor sich hin, wobei ihm ein langer Sabberfaden aus dem Mund lief.

Paddy saß neben einem Karton auf dem Boden und rutschte nun zu ihm, um diesen abzuwischen.

„Na Kleiner, was willst du uns erzählen? Hat Papa wieder Dinge gesagt, die du noch gar nicht hören solltest?“

Er hatte sich jetzt flach hingelegt, so dass er auf Kopfhöhe mit ihm war. Merlin antwortete mit einem fröhlichen Quietschen, wobei er das Gleichgewicht verlor und mit der Nase fast auf die Decke gefallen wäre, doch sein Köpfchen schoss sofort wieder hoch, um den Blick nicht von seinem Vater zu nehmen.

Paddy legte seinen Kopf seitlich auf seine gekreuzten Arme und begann zu summen, während er seinen Sohn betrachtete.

Mel erkannte schnell Jimmys „Nanana“ in der Melodie und ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie auf ihre kleine Familie in der goldenen Spätsommersonne schaute. Schweigend setzte sie sich neben sie und begann, Paddy in den offenen Haaren zu spielen. Aus seinem Summen wurde leiser Gesang und erfüllte das kleine Wohnzimmer der beiden.

„Schatz, ich liebe dich.“ seufzte sie und beugte sich hinab, um ihn zu küssen. Zärtlich knabberte sie an seinen Lippen, als er plötzlich seinen Kopf zurückzog.

„Au!“ rief er lachend, und versuchte seine Haare aus Merlins kleiner Hand zu befreien, der gerade versuchte, sie sich in den Mund zu stecken.

„Man zieht Papa nicht an den Haaren!“ schimpfte er kichernd, während er mit Hilfe eines Haargummis seine Mähne in Sicherheit brachte.

Merlins Mundwinkel sanken wie in Zeitlupe nach unten und die Lippen öffneten sich, um einen herzzerreißenden Schrei freizusetzen.

„Och, ist Papa wieder gemein zu dir?“ fragte Mel übertrieben mitfühlend. Blitzschnell griff sie nach Pads Pferdeschwanz und hielt ihn ihm vor die Nase. „Da hast du sie wieder.“

Das Weinen erstarb und er blinzelte die Tränen aus seinen Augen, um gleich danach nach den Haaren zu greifen.

„Ja ja, tut ihr zwei euch ruhig auf meine Kosten zusammen.“ lachte Paddy und zog ihr den Zopf aus den Fingern. Er stand auf, holte ein Kuscheltier aus der Wiege und legte es ihm vor die Nase. „Hier, daran kannst du nuckeln.“

Merlin sah nicht begeistert aus, schien diesen Kompromiss aber zu akzeptieren.

Pad stand neben den beiden und streckte seine Nase in die Luft.

„Mmmhhh, riechst du das? Maite scheint die Küche zu testen.“ - „Oh ja! Und mein Magen scheint schon zu antworten. Lass uns runter.“ Sie nahm ihren Sohn auf den Arm und folgten dem Duft, der durch das ganze Schloss zog.

Die selbst ernannte Köchin der Familie hatte in der Tat offenbar das gesamte Kücheninventar in Beschlag genommen und scheuchte jeden aus ihrem Reich, der es wagte, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Sie waren anscheinend nicht die ersten, die es versucht hatten, ihr in die Töpfe zu schauen, da noch einige weitere Kels in dem nahe gelegenen Wohnzimmer saßen und sie missmutig anblickten, als sie durch die Tür traten.

„Na, habt ihr auch kein Glück gehabt?“ fragte Angelo und hielt sich den Bauch. Beide schüttelten den Kopf und suchten sich einen freien Platz auf dem Sofa.

Ihre Geduld wurde aber nicht lange auf die Folter gespannt, denn bald hörten sie eine beinahe herrische Stimme sie auffordern, doch bitte endlich den Tisch zu decken.

Sonst sich immer drückend, sprangen nun alle eilig auf und rissen sich um Teller, Besteck, Terrinen und Saucieren. In Windeseile war die Tafel gefüllt und sie stürzten sich auf die gezauberten Köstlichkeiten. Jeder hatte den Tag damit verbracht, seinen Teil der Behausung so schnell als möglich wohnlich einzurichten, so dass sie ziemlich ausgehungert waren.

Munteres Schwatzen gepaart mit dem Klimpern der Teller, Messer und Gabeln bildeten eine gemütliche Kulisse, bevor alle satt und müde in die gepolsterten Stühlen zurück sanken.

War der Andrang beim Tischdecken noch so groß gewesen, konnte sich jetzt keiner dazu durchringen, auch nur einen Finger zu rühren.

„Was machen wir heute noch?“ fragte Angelo geschafft. - „Auf die Couch packen und fernsehen?“ schlug Kira matt vor. - „No way. Ich muss noch an einem Song arbeiten.“ brummte Paddy mindestens ebenso k.o. „Aber ihr könnt euch gerne auf die faule Haut legen.“

Er war der erste, der sich erhob und lediglich sein Geschirr mit in die Küche nahm. Mel schloss sich ihm an und wickelte Merlin, um ihn nach seinem Abendbrot ins Bett zu bringen.

Sie selbst legte sich ebenfalls auf´s Bett und sah Paddy zu, während er unzufrieden an einem Text schrieb. Schnell fielen auch ihr die Augen zu.

Es war Nacht, als Paddy sich an sie kuschelte und in das Reich der Träume versank.

Eine düstere Atmosphäre umgab ihn, als er meinte aufzuwachen. Das Bett neben ihm war leer und nur ein leises Lachen drang an sein Ohr. Er schlich durch das schlafende Schloss und erreichte schließlich die Küche. Die Tür war nur angelehnt und ein feiner Streifen Licht fiel auf den Flur.

Durch den schmalen Spalt erspähte er Mel.

Er hielt die Luft an, um nicht durch sein nervöses Atmen entdeckt zu werden.

Sie saß am Küchentisch in einen Arm gekuschelt und sah sehr glücklich aus. Als er die Tür nur wenige Zentimeter weiter aufschob, erkannte er Jimmy am anderen Ende des Arms. Er sah ihr tief in die Augen und sein Gesicht näherte sich langsam ihrem.

Er wird doch nicht...er wagt es nicht...doch! Er schien sie küssen zu wollen!

Mit einem Ruck riss er die Tür auf. „Nein!“ schrie er...

...und erwachte.

Er wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn, bevor er sich zur Seite drehte, doch wo Mel liegen sollte, war das Bett kalt und leer.

 

 

Mit einem Mal war er hellwach und sein Blick wanderte suchend durch das Zimmer, in der Hoffnung sie an Merlins Wiege zu finden. Beunruhigt stellte er fest, dass sie nirgends zu sehen war, so dass er nun die Decke zur Seite schlug und durch die anderen beiden Räume lief. Erfolglos, wie er letzten Endes heraus fand.

Langsam ging er die Treppe hinunter und öffnete vorsichtig die Tür zur Küche. Sie war leer.

Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe.

Wo mochte sie nur stecken?

Einen Sekundenbruchteil dachte er ernsthaft darüber nach, in Jimmys Zimmern nachzusehen, doch dann hielt er die Luft an und lauschte. Ein helles, nur allzu gut bekanntes Lachen drang leise an sein Ohr.

Es schien aus dem Wohnzimmer zu kommen.

Wie in seinem Traum stand die Tür ein kleines Stück offen und er sah sie mit dem Rücken zu sich sitzen, eine Hand auf ihrer Schulter.

Sie lachte immer noch und amüsierte sich anscheinend köstlich.

Er holte tief Luft und trat hinein.

„Ach, hier bist du!“ seufzte er und stieß sie beruhigt wieder aus.

Mel und Meike blickten ihn überrascht an.

„Hi Schatz! Was ist los? Du klingst so erleichtert. Alles in Ordnung mit Merlin?“- „Ähm, ja, alles in Ordnung.“ - „Hol dir doch auch einen Kakao und setz dich dazu! Meike hat mir gerade in den buntesten Farben geschildert, wie sie sich kurz vor ihrem Abschluss in der Filmschule fürchterlich blamiert hat. Los, Meike, erzähl nochmal!“ rief sie kichernd. - „Okay, dann wartet einen Moment. Ich geh kurz in die Küche.“

Er schob sich einen Becher in die Mikrowelle und wartete, dass seine Milch endlich warm sei.

Schmunzelnd ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

Alles war gut. Er hatte sich umsonst verrückt gemacht. Sah er schon Gespenster? Nur weil sie ihm einmal untreu war, musste er nicht in alle Kleinigkeiten etwas hinein interpretieren. Vielleicht hatte sie ja doch etwas daraus gelernt. Außerdem liebte sie ihn, da war er sich absolut sicher. Oder ob sie sie einfach mal darauf ansprechen sollte? Wenn jedoch nichts dahinter steckte, würde sie ihn bestimmt auslachen.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst, rührte Kakaopulver in die dampfende Milch und nahm den Becher mit ins Wohnzimmer, wo er sich zu den zwei Mädels aufs Sofa lümmelte.

Aufgedreht berichtete Meike ein zweites Mal von ihrem Erlebnis, aber Paddy ging nicht weiter auf sie ein, als sie fertig war, sondern guckte Mel nachdenklich an.

„Sag mal, warum bist du eigentlich nicht im Bett? Nachts um halb drei ist nicht gerade eine normale Uhrzeit, um in der Stube zu hängen und sich quasi nen Schwank aus der Jugend zu erzählen.“ - „Ich konnte nicht schlafen. Das heißt, eigentlich habe ich erst gepennt, aber ich habe schlecht geträumt und brauchte dringend Schokolade. Unser Süßigkeitenschrank ist leider noch leer, wobei ich nicht weiß, wie so etwas passieren konnte, von daher habe ich mir dann Kakao gemacht. Kurz darauf tauchte Meike auf.“ - „Jimmy hat sich im Bett schrecklich breit gemacht und nachdem ich fast raus gefallen war, habe ich vorerst das Weite gesucht.“ erklärte diese grinsend.

Paddy nickte, war aber immer noch mit seinen Gedanken zu weit weg, um etwas Passendes zu erwidern.

Mel gähnte herzhaft.

„Na, Maus, doch wieder müde?“ - „Joa, ein bisschen. Wir können es ja gleich noch einmal mit schlafen probieren, bevor uns der Lütte morgen wieder die ganze Zeit auf Trapp hält.“

Sie leerten beide ihre Tassen und kuschelten sich im Bett wieder aneinander. Weder Paddy noch Mel wurden in dieser Nacht noch einmal von Alpträumen heimgesucht.