„Und jetzt?“ Feixend musterte sie seine farbenfrohe Mähne.
„Was und jetzt?“ Irritiert blickte Paddy sie an.
„Naja, willst du das jetzt so lassen?“
„Was soll ich denn machen?“ Er zögerte kurz. „Wobei...ich hatte auch die Option in Erwägung gezogen, sie einfach abzuschneiden. Dann dauert es zumindest nicht so lange, bis alles rausgewachsen ist.“
Mel schluckte.
Welch schräger Gedanke. Paddy mit kurzen Haaren! Kaum vorstellbar! Obwohl es bei Jimmy ja auch nicht schlecht aussah. Aber Paddy?
Sie kniff die Augen leicht zusammen und versuchte, sich das Resultat vorzustellen.
„Also ich weiß nicht...“
Doch dann brach sie wieder in Gelächter aus, als sie es partout nicht mehr schaffte, Paddys Fauxpas auszublenden. Es war einfach zu.... lila.
„Mann, da hast du dir wirklich ganz schön was eingebrockt! Aber schneide sie nicht voreilig ab, vielleicht gewöhnst du dich ja dran. Und was meinst du, wie lange es dauert, bis die wieder nachgewachsen sind!“ Ihre Finger glitten liebevoll durch die seidige Pracht.
„Meinst du wirklich, man kann sich daran gewöhnen?!“
„Also bei dir bin ich mir nicht sicher, aber ich kann´s auf keinen Fall!“ Sie lachte erneut laut auf.
„Ja ja, Hohn und Spott. Genau deswegen bin ich hierher gekommen.“
„Na, siehste! Es freut mich, dass ich deinen Ansprüchen genügen konnte!“
Es klopfte, die Tür flog auf und energisch kam eine Schwester ins Zimmer.
„Hallo! Es ist gleich Zeit für die Abendmedikamente.“
Sie stellte ihr ein kleines Becherchen auf den Nachttisch und wollte schon wieder hinausmarschieren, als Paddy sich zu Wort meldete.
„Entschuldigung, könnten Sie die Schmerzmittel ein wenig reduzieren?“
Die Schwester zog die Stirn in Falten. „Ähm, wieso?“
„Die Kleine wird ein wenig aufmüpfig.“
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Nein, ich schätze, das steht derzeit noch nicht zur Debatte. Es sieht wohl so aus, als wenn Sie ihre Frau ohne fremde Hilfe bändigen müssen.“
„Welches sind denn die Schmerzmittel?“
Er schüttelte den kleinen Becher, um einen Blick auf alle bunten Pillen werfen zu können, die darin waren.
„Also nur, damit wir auch sicher gehen können, dass sie sie auch nimmt.“
„Wagen Sie es nicht!“
Lachend griff sie nach den Medikamenten und drehte sich zu Mel.
„So! Hand auf und weg damit.“
Sie kippte den Inhalt des Bechers auf Mels Handfläche, die den gesamten Inhalt in ihrem Mund verschwinden ließ und mit einem kräftigen Schluck Wasser den Cocktail hinunterspülte.
Paddy haderte er einen Moment mit sich, ließ aber schließlich sein Gewissen gewinnen.
„Angelo ist auch hier.“
„Wieso kommt er denn nicht herein? Habt ihr wieder Streit?“ Irgendwie hatte sie es ja befürchtet. „Was ist passiert?“
„Nichts. Er liegt lieber im Bett, als Krankenbesuche zu machen.“
Verwirrt runzelte Mel die Stirn.
„Er ist als Patient hier.“ beantwortete Paddy ihre unausgesprochene Frage.
„Jetzt sag sag endlich, was passiert ist!“ Ungeduld ließ ihre Stimme lauter werden.
„Nach dem Kira ihre Sachen gepackt hat und zu ihren Eltern abgereist ist, ist er ihr gefolgt und hat in deren Vorgarten gecampt.“
Ungläubig stieß sie die Luft aus. „Nicht wirklich! Bei den Temperaturen?!“
„Ja! Und genau deshalb liegt er nun mit einer Lungenentzündung eine Etage über dir.“
„Moment mal, wieso hat Kira ihn nicht hereingelassen?“
Paddy wich ihrem Blick aus.
„Tirza.“
„Heilige Scheiße.“
„Das trifft es ziemlich gut.“ pflichtete er ihr bei.
„Was wird jetzt aus den beiden?“
„Keine Ahnung. Im Moment sieht es nicht gut für ihn aus. Sie reden allerdings gerade noch einmal. Ich denke, ich sehe mal nach, was bei dem Gespräch herausgekommen ist.“
Er stand auf, hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und machte sich auf den Weg zu seinem Bruder.
„Wie soll ich wissen, dass das nicht noch einmal passiert?“ Kira stand vor dem Fenster und blickte traurig in die Ferne. Es fiel ihr schwer, Angelo bei diesem Gespräch anzusehen. Vielleicht hätte sie die Wahrheit in seinen Augen sehen können, doch sie hatte eine tiefsitzende Angst, dass sie dort eine Lüge entdecken würde.
„Du musst mir vertrauen!“
„Ja, was ich nicht alles muss. Ich kann es aber nicht. Zumindest nicht im Moment.“
Langsam drehte sie sich um, während sie die Hand sinken ließ, die kurz zuvor unbewusst auf ihrem noch flachen Bauch gelegen hatte.
So unsicher sie sich auch war, sie wusste mit Sicherheit, dass sie ihm keinen Meter mehr über den Weg traute. Das waren keine besonders guten Voraussetzungen für eine Elternschaft oder auch nur eine Beziehung.
„Angelo, du musst erwachsen werden.“
„Ja, ich weiß. Es tut mir wirklich so unsagbar leid!“
„Nichts weißt du.“
Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Wie meinst du das?“
Ihr noch ernsterer Unterton war ihm keinesfalls entgangen, doch sie antwortete nicht auf seine Frage.
„Ich gehe jetzt. Morgen komme ich noch einmal, dann fahre ich wieder nach Hause.“
Kira hatte die Schultern geradegerückt, nickte wie beifällig, als würde sie sich selbst etwas bestätigen und schloss beim Hinausgehen die Tür hinter sich.
Sie hatte erst ausgesehen, als hätte sie noch etwas sagen wollen, war dann aber stumm geblieben.
Sie war so eine stolze Frau und gleichzeitig so warmherzig. Doch so verletzt, wie sie im Moment war, hatte er sich seine Chance auf ihre Warmherzigkeit endgültig zunichte gemacht.
Vielleicht hatte sie sich morgen ein wenig beruhigt und ließ doch noch einmal mit sich reden. Mehr als darauf hoffen, konnte er nicht.
Seine Augen waren nach wie vor auf die geschlossene Tür geheftet, als diese sich erneut öffnete.
Unwillkürlich zeichnete sich ein zerbrechliches Lächeln auf seinen Lippen ab.
Sie war zurückgekommen!
Pflaumenfarbene Haare erschienen im Rahmen und die Schwerkraft hatte unverzüglich seine Mundwinkel wieder an sich gerissen.
„Ach, du bist es.“ Enttäuscht begrüßte er seinen Bruder, der sich jedoch nicht irritieren ließ.
Er zog sich einen Stuhl ans Bett, drehte ihn in der Bewegung schwungvoll herum und setzte sich verkehrt herum darauf.
„Sie ist weg?“ Den fragenden Tonfall konnte man geflissentlich überhören. Die Antwort ergab sich von selbst.
Dennoch nickte Angelo, wich aber Paddys Blick aus.
„Sie kann es dir nicht verzeihen?“
„Sieht so aus. Sie wollte morgen noch einmal herkommen. Es klang, als wollte sie noch eine Nacht darüber schlafen. Vielleicht ist der Zug doch noch nicht ganz abgefahren.“
Unruhig rutschte Paddy auf der Sitzfläche hin und her, dann verschränkte er die Arme vor der Brust.
„Meike hat bereits angefangen, Kiras Sachen in Kisten zu verstauen. Kira wird ihr vermutlich jetzt zur Hand gehen. Morgen nimmt ihr Vater sie mit zurück nach Hause.“
Angelos Kiefer waren aufeinandergepresst.
„Dann hat sie ihren Entscheidung doch bereits getroffen.“
Paddy nickte.
„Ich hab´s versaut.“ seufzte er resigniert.
„Das hast du.“ Da konnte Paddy nur zustimmen.
„Vielleicht ist es besser so.“ Angelo kratzte sich nachdenklich am Nasenrücken. „Aber sie ist...“ Doch dann brach er ab.
„Sie ist was?“ Paddy musterte ihn forschend. Hatte Kira es ihm doch gesagt?
„Naja, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Sie ist...“
„...schwanger.“ ergänzte Paddy.
„Nein, das meinte ich nicht. Sie ist irgendwie zu gut für mich, wollte ich sagen.“ korrigierte er seinen Bruder, doch dann stutze er.
„Wie kommst du auf schwanger?“ Perplex richtete er sich im Bett ein Stückchen auf.
Paddy war aufgestanden und schenkte am Nachtschrank ein Glas mit Wasser voll. Er blähte die Backen. „Och, nur so ein Schuss ins Blaue.“
„Paddy?“ Angelo kannte seinen Bruder, der ihm jedoch nun aus fadenscheinigen Gründen den Rücken zuwandte. Mit einem Ruck drehte er sich schließlich wieder zum ihm um. Hektisch begann er, mit den Armen zu gestikulieren.
„Ich hab nichts gesagt! Gib einfach vor, nichts zu wissen, wenn sie es dir irgendwann sagt!“
Angelo klappte der Mund auf.
„Seit wann weißt du es?“
„Auch erst seit heute.“ gab er zu und nahm beschämt wieder Platz.
„Na, du kannst ja ein Geheimnis lange für dich behalten.“ murmelte er bereits in Gedanken abdriftend.
Paddy schien weiter auf ihn einzureden, er nahm es jedoch kaum wahr. Händeringend versuchte er, dem Wort „schwanger“ Leben einzuhauchen. Er wollte begreifen, was es wirklich für ihn bedeutete, doch ohne Erfolg.
Er sollte Vater werden?
Sein Herz begann, schneller zu pochen.
Auch wenn der Gedanke ihn irgendwie erfreute, erschien er im Grunde genommen surreal und befremdlich. Und beängstigend.
„Weißt du es ganz sicher?“ hakte er noch einmal nach und bekam ein Schulterzucken zur Antwort.
„So sicher, wie Kira es weiß. Aber du siehst, dass es noch dringender ist, dass du das wieder gerade biegst.“ Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. „Und dass du dich für die richtige Frau entscheidest.“
Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment lang, doch keiner ging näher auf das Thema ein.
„Vielleicht sollte ich mit Mel reden.“ fragte Angelo abwesend.
„Wieso mit Mel? Worüber willst du mit ihr reden? Mit Kira musst du dich aussprechen, damit du ein guter Vater sein kannst!“
„Ich dachte ja nur, dass sie vielleicht auch wissen sollte, woran sie ist, wenn doch sowieso schon alles durcheinander ist im Moment.“
Paddys Finger krallten sich in die Rückenlehne des Stuhls, auf dem er sich gerade abstützte. „Woran sie ist? Sie ist an mir! Vergiss das nie! Da ist nichts durcheinander! Sie ist mit mir verheiratet und daran ändert sich nichts, nur weil mein kleiner Bruder eine Schwärmerei entwickelt hat!“ Es fiel ihm schwer, seine Wut im Zaum zu halten. Wieso hatte er das Thema Mel denn überhaupt einbringen müssen? Hätten Tirza, die Schwangerschaft und Kira nicht schon gereicht?!
Sein Bruder war ihm gesundheitlich derzeit massiv unterlegen, weshalb er sich für einen überstürzten Rückzug entschied, bevor es erneut eskalierte.
„Wir sehen uns morgen.“ Er winkte kurz, als Angelos Worte ihn innehalten ließen.
„Hast du Angst, sie könnte sich für mich entscheiden?“ So provokant diese Frage auch klang, sein Gesicht zeigte nichts als Ehrlichkeit.
„Ganz bestimmt nicht!“
Paddy biss sich auf die Unterlippe.
Wie absurd! Warum sollte Mel sich auf einmal für seinen kleinen Bruder interessieren? Sie hatten sich zwar immer gut verstanden, aber sie hatte nie Zweifel daran gelassen, dass er nur ein Schwager für sie war. Allerhöchstens ein Freund, aber das war´s auch. Okay, vielleicht sogar ein guter Freund, aber eben nur ein Freund. Oder doch?
„Du bist dir wirklich nicht sicher?“ Ein wenig verblüfft, musste Angelo ein Grinsen unterdrücken.
Natürlich würde er seinem Bruder niemals wünschen, dass seine Ehe auseinanderbräche, doch unter diesen Umständen…
„Ich fahre morgen wieder.“ erklärte Lena, während sie ihre Jacke über das Fußende von Mels Bett hing. „Kira und ihr Vater fahren morgen gen Norden und können mich ein ganzes Stück mitnehmen. Den Rest nehme ich die Bahn.“
Traurig hielt Mel die Hand ihrer Mutter.
„Musst du denn wirklich schon wieder weg?“
„Ja, leider. Ich versuche wiederzukommen, aber ich kann dir leider nicht sagen, wann es klappt. Aber es gibt noch etwas, über das wir reden müssen.“ Sie suchte erfolglos den Blickkontakt zu ihrer Tochter.
Mel zog die Brauen zusammen. „Was denn? Wie es zu meinem Unfall kam, hast du doch von den anderen schon zu hören bekommen.“ Doch kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, dämmerte ihr, worum es ging. Ihre Mutter hatte in den letzten Tagen schon zu viele Andeutungen gemacht. Gereizt entzog sie ihr ihre Hand.
„Mel, ich werde jetzt nicht weiter drumherum reden. Der Arzt in Irland meinte, du seist zu dünn. Er war sich ziemlich sicher, dass du ein Problem mit der Ernährung hast.“
„Schwachsinn.“ Mel legte so viel Abfälligkeit in das Wort, wie ihr irgendwie möglich war.
„Gibt es wirklich nichts, worüber du mit mir reden willst?“
Worüber sollte sie schon reden wollten?
Vielleicht über Frank? Oder über Jenny? Über Merlin? Essen war, weiß Gott, ihr geringstes Problem.
Nach einem Augenblick des Schweigens brach Mel die Stille.
„Nein, Mama. Im Moment gibt es nichts, worüber ich reden möchte.“
Doch die Tränen in ihren Augen straften sie Lügen.
„Sag mir doch bitte, was mit dir los ist!“
„Ich kann nicht!“ presste sie mit erstickter Stimme hervor. Dann begannen kleine Rinnsale, über ihre Wangen zu fließen.
„Warum nicht? Ich mach´ mir Sorgen!“
„Ich weiß!“
Wieder kehrte Ruhe ein, nur ein leises Schluchzen war zu vernehmen.
„Mel, es muss doch irgendwas passiert sein, dass du deinen Appetit verloren hast! Du hast immer so gerne gegessen.“
„Es ist so viel passiert.“ flüsterte sie und nestelte an einem überstehenden Faden ihrer Bettdecke.
„Dann sprich darüber! Du lässt mich an deinem Leben gar nicht mehr teilhaben.“
Noch immer mied sie den Augenkontakt mit ihrer Mutter.
„Ich kann jetzt nicht, bitte versteh mich! Ich werde mit dir darüber reden, wenn ich so weit bin. Wirklich!“
Seufzend nickte Lena.
„Aber nicht, dass ich es aus der Zeitung erfahre.“
„Bestimmt nicht.“ Mel hoffte, dass sie Recht behielte. Es folgte eine kurze Umarmung ihrer Mutter, bevor diese sich verabschiedete. Sie gab sich mit der Schwester die Klinke in die Hand, die gerade das Abendessen brachte.
Forschend suchte Angelo nach einer Antwort, die Paddy ihm aber nicht zu geben scheinen wollte.
„Die Sache mit Jenny hat ihr ziemlich zugesetzt und jetzt weißt du nicht, wie fest dein Stand bei ihr noch ist.“
Obwohl als sachliche Feststellung formuliert, trafen Angelos Worte bei Paddy mitten ins Schwarze.
„Es ist egal, ob ich unsicher bin! Lass doch einfach deine Finger von ihr! Was denkst du dir denn eigentlich?! Willst du mein ganzes Leben zerstören, nur weil deines aus den Fugen geraten ist?“
Allmählich war er dabei, die Grenze zu überschreiten, die bei Geschwistern ein ungeschriebenes Gesetz sein sollte. Man fischte einfach nicht in familieneigenen Gewässern!
„Ich will dein Leben nicht bewusst zerstören! Aber was ist, wenn ich dazu bestimmt bin, mein Leben mit Mel zu verbringen und mit ihr glücklich zu werden?“
„Hör auf, so einen Unfug zu reden! Merkst du eigentlich noch, was du da sagst?“ Dann stutzte er kurz, bevor er weitersprach. „Hast du dir Gedanken darüber gemacht, wie wir zwei dann noch zusammen in der Band koexistieren sollen? Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass ich mit dir in ein gemeinsames Mikro trällere, während du von meiner Frau singst, bevor du sie in die Arme schließt, wenn du von Bühne kommst!“
Angelos Schweigen zeigte deutlich, dass er darauf keine Antwort wusste. Entgegen Paddys Vermutung hatte er sich sehr wohl schon Gedanken gemacht, wie es weitergehen könnte. Er war nur zu keiner Lösung gekommen. Die Option, ob er aus der Familie ausstiege, erübrigte sich auf Grund seiner Minderjährigkeit. Also würde Paddy gehen müssen. Aber das konnte er ihm ja nun schlecht vorschlagen. Doch immerhin hatte der selbst schon einmal darüber nachgedacht, diesen Schritt zu wagen.
Die Stille wurde allmählich beklemmend.
„Lass einfach alles so, wie es ist! Du denkst im Moment einfach nicht mit deinem Kopf! Nur um dich zu erinnern: Du liebst Kira seit Ewigkeiten! Und sie bekommt nun ein Kind von dir! Das Letzte, was du tun solltest, ist an andere Frauen zu denken! Und erst recht nicht an meine Frau! Ich verstehe wirklich nicht, was in dir vorgeht!“
Da musste Angelo ihm allerdings zustimmen. Er verstand sich selbst im Moment auch nicht so richtig. Wahrscheinlich sollte er derzeit nichts übers Knie brechen.
„Ich mache mich auf den Weg. Ich habe das Gefühl, dass wir beide hier ohnehin nicht weiterkommen.“
Er grüßte flüchtig zum Abschied und ging zu Mel, die lustlos auf ihrem Abendbrottablett stocherte.
„Und? Was erzählt Angelo?“ Sie hob den Kopf und schob sich eine Gabel mit Salat zwischen die Zähne.
„Nicht viel.“ wich Paddy aus, holte statt dessen etwas aus seiner Tasche und hielt es ihr vor die Nase. „Hier vom Kiosk! Schoki! Nur für dich! Ist auch kaum geschmolzen!“
Schmunzelnd nahm sie die Süßigkeit an sich, ließ sich aber nicht beirren.
„Aber ich dachte, er hätte noch mal mit Kira gesprochen?“
„Ja, das hat er. Scheint aber nicht von Erfolg gekrönt gewesen zu sein.“
„Und was hat er jetzt vor?“
„Das weiß er auch noch nicht so genau.“ Er fuhr sich mit der Hand unruhig durch die Haare. „Aber es sieht so aus, als wenn Kira gerade auszieht.“
„Oh nein! Ich hab sie so gern. Ich hoffe, die kriegen das noch wieder gerade gebogen!“
„Das hoffe ich allerdings auch.“ erwiderte Paddy und blähte die Backen. „Schatz, ich muss jetzt los. Wir sehen uns morgen früh. Ich versuche, vor dem Studio wenigstens noch kurz bei dir reinzuschauen.“
Sie betrachtete stirnrunzelnd ihr volles Tablett.
„Aber wenn du jetzt gehst, muss ich das alles alleine essen!“
„Das hättest du auch so gemusst.“ Grinsend gab er ihr einen Kuss auf den Mund, bevor er aufbrach.
„Wie war es?“ Meike stellte Kira einen Tee auf den Tisch, als diese die Kellysche Küche betrat.
„Wie es zu erwarten war.“ Schulterzuckend ließ sie sich auf den Stuhl vor die Teetasse fallen und ließ nachdenklich etwas Honig vom Löffel langsam in die dampfende Flüssigkeit fließen.
„Was hat er gesagt?“ Ungeduldig hing Meike an den Lippen ihrer Freundin. „Freut er sich?“
Kira runzelte die Stirn. „Ne, wieso? Ach...du meinst die Schwangerschaft.“ Sie ließ den Löffel klirrend in die Tasse fallen und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Das hab ich ihm nicht gesagt.“
Meike stöhnte übertrieben laut. „Aber deshalb bist du doch hier und zu ihm hingefahren!“
„Nein, ich bin hier, weil ich mir Sorgen mache und sehen wollte, wie es ihm geht!“ erwiderte sie, merkte aber sofort, dass diese Aussage sie ebenso wenig weiterbrachte.
„Du machst dir Sorgen?“ Mit spitzen Lippen fixierte Meike Kira, die sich sichtlich unwohl hin und her wand, als sie nach Worten rang.
Ja, und?“ sagte sie schließlich, ohne aufzusehen.
„Dir liegt noch was an ihm! Gib ihm die Chance, ein richtiger Vater zu sein!“ Aufmunternd nickte sie ihr zu, erhielt jedoch im Gegenzug nur ein verächtliches Kopfschütteln.
„Du erwartest nicht ernsthaft von mir, dass ich wegen des Kindes mit ihm zusammenbleibe?“
„Natürlich nicht! Sondern, weil ich merke, dass er dir nicht egal ist. Soll ein Kuss sein ganzes Leben bestimmen?“
Wütend sprang Kira auf. „Unser ganzes Handeln bestimmt unser Leben! Jeden Tag, immer! Und wir entscheiden, wie wir handeln! Er ist derjenige gewesen, der mit seinem Handeln alles kaputt gemacht hat!“
„Er liebt dich!“
„Das ist mir egal!“
„Das ist es nicht und das weißt du! Natürlich war es absolut indiskutabel, wie er sich verhalten hat, aber wieso kannst du ihm diesen Fehltritt nicht verzeihen?“
Kira schwieg einen Moment, während sie gedankenverloren aus dem Fenster schaute.
„Vielleicht ist es einfach zu frisch. Es ist gerade ein paar Tage her! Außerdem weiß ich, dass er sie wiedersehen wird. Ich kann ja schlecht verlangen, dass sie das Studio wechseln.“
„Aber selbst wenn du ihm nicht verzeihen kannst, musst du ihm erzählen, dass du ein Baby von ihm erwartest!“
Ein Baby. Kira ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Irgendwann hatte sie Kinder haben wollen; jetzt noch nicht. Trotzdem war es in keinem Sekundenbruchteil ein Thema gewesen, sich gegen das Kind zu entscheiden! Sie spürte, dass sich ihr Körper veränderte, auch wenn man noch lange nichts sehen würde. Trotzdem war es unvorstellbar, dass dort wirklich ein Kind in ihr heranwachsen würde! Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Was ist? Das Thema ist ernst. Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren!“
„Ich weiß.“ Kira seufzte besänftigt. „Ich fahre morgen noch einmal zu ihm. Ich habe es ihm quasi versprochen. Dann werde ich es ihm sagen.“
„Gut. Ich bin gespannt, wie er es aufnimmt.“ sinnierte Meike und stellte ihren Becher in den Geschirrspüler.
„Ich nicht. Am liebsten würde ich diesem Gespräch komplett aus dem Weg gehen. Ich könnte ihm ja auch einfach einen Brief schreiben. Papier ist geduldig.“
„Auf keinen Fall! Da entstehen nur wieder Missverständnisse. Es wird mit Sicherheit kein angenehmes Gespräch werden und mir fällt leider auch nichts ein, wie ich das noch irgendwie schönreden könnte. Da helfen nur noch Floskeln. Da musst du wohl durch. Das schaffst du schon!“
„Sehr witzig. Aber im Ernst. Ich sollte es wahrscheinlich nicht zugeben, aber ich habe vielleicht ein wenig Angst, dass ich ihm in einem Anfall von Harmoniesucht einfach alles vergebe.“ gab sie kleinlaut zu.
„Das wäre doch aber das Beste, was euch passieren könnte!“
„Nur auf den ersten Blick. Ich sagte doch, es ist zu frisch. Ich garantiere dir, dass ich es ihm bei jeder passenden Gelegenheit wieder aufs Brot schmieren würde. Daran würde unsere Beziehung dann auch kaputt gehen.“
„Warte ab, was der morgige Tag bringt. Lass es auf dich zukommen. Wenn du ihm tatsächlich vergeben solltest, ist die Entscheidung vielleicht besser, als du im Moment denkst. Du wirst spüren, was das Richtige ist.“
„Ich danke dir für alles.“ Nach einer kurzen aber freundschaftlichen Umarmung machten sie sich daran, den Rest von Kiras Hab und Gut zu packen.
Angelo mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus, nachdem Kira ihn verlassen hat, weil er offenbar was mit Tirza gehabt hatte? Konnte denn keiner mehr auf den Kleinen aufpassen, sobald sie mal nicht vor Ort war? Wenn man sich nicht um alles selbst kümmerte.
Schnaufend kletterte Mel aus dem Bett und schnappte sich ihre Gehhilfen, die an der Wand angelehnt gewesen waren. Allmählich kam sie einigermaßen mit ihnen zurecht, doch sicher fühlte sie sich noch bei Weitem nicht.
Das Abendessen war bereits vor einer ganzen Weile abgeräumt worden und auch die abendlichen Infusionen waren schon angehängt und wieder abgenommen worden.
Ruhe war in den Krankenhausfluren eingekehrt, als Mel vorsichtig aus ihrem Zimmer um die Ecke über ihre Station lugte.
Sie musste nur eine Etage höher kommen, das war mit Hilfe des Fahrstuhls ja nun nicht so schwer.
Über einer Tür erlosch gerade ein grünes Lämpchen, da öffnete sie sich schon und eine Schwester kam heraus, um in das angrenzende Stationszimmer zu eilen, das genau gegenüber der Fahrstühle lag.
Die große Fensterfront bot der Nachtschwester die Möglichkeit, die Kontrolle über die spätabendliche Besucherfluktuation zu haben. Auch wenn die eigentliche Besuchszeit längst vorbei war, wurde in den Einzelzimmern gerne mal ein Auge zugedrückt. Doch heute Abend war es erstaunlich still, wie Mel verärgert feststellte.
Wie sollte sie es denn so ungesehen in den Fahrstuhl kommen?
Selbiger öffnete gerade mit einem deutlichen „Pling“ und der Ebeneansage seine Pforten. Jemand kam heraus, bog aber sofort zielstrebig in die andere Richtung ab.
In diesem Moment verließ die Pflegekraft ihren Bereich, um zwei Türen weiter die Personaltoilette aufzusuchen.
Das war ihre Gelegenheit!
So schnell es eben ging, humpelte sie auf die schweren silbernen Türen zu und hob schon einen Meter, bevor sie ihr Ziel erreichte, die Gehhilfe, um den Lift aufzuhalten. Doch dieser ließ sich nicht von seiner Mission abhalten. Er fuhr los, allerdings nur, um Sekunden später ein lautes Alarmsignal von sich zu geben, welches kurz darauf gemeinsam mit den Leuchtanzeigen des Fahrstuhls erstarb.
Verdammt!
Panisch sah Mel zum Personalklo, von wo nun deutliche Geräusche zu vernehmen waren.
Es gestaltete sich nun noch schwieriger, mit nur einer Gehhilfe und dafür aber mit gewünscht erhöhter Geschwindigkeit zurück in ihr Zimmer zu gelangen. Doch wie durch ein Wunder fiel gerade die Tür hinter ihr ins Schloss, als sie die schimpfende Stimme der Schwester hörte, die verwundert die im Aufzug steckende Krücke betrachtete.
Ein schmaler Lichtkegel fiel in ihr dunkles Zimmer, sobald Mel ihre Neugier nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, um durch einen winzigen Spalt einen Blick auf den Flur zu erhaschen.
Dort brummte die Schwester etwas von Handwerkern und verschwand aus Mels Sichtbereich.
Was sollte sie nun machen? Den Plan, Angelo zu besuchen und ihm den Kopf zu waschen, hatte sie in keinster Weise aufgegeben.
Angelo hatte sich bereits seit einer Stunde wieder und wieder von einer Seite auf die andere gedreht. Er kam einfach nicht zur Ruhe. Das Wissen, dass Mel sich nun auch noch hier im Haus befand, stellte auch kein besonders gutes Ruhekissen dar.
Warum sollte er eigentlich nicht mit ihr reden? Es war alleine seine Entscheidung, ob er es ihr sagen wollte oder nicht. Sicher, er musste zugeben, dass es seine Gesamtsituation wohl nicht unkomplizierter machen würde. Aber wenn er es nicht täte, würde er nie erfahren, ob er nicht vielleicht doch eine Chance gehabt hätte. Er musste es einfach versuchen!
Er griff nach seiner Hose, die am Fußende lag, und schlüpfte hinein.
Vorsichtig streckte er seinen Kopf durch die Tür. Es war bereits spätabendliche Ruhe eingekehrt, somit wäre es vermutlich keine Zauberei, ungesehen die Station zu verlassen.
„Guten Abend, Herr Kelly. Wo wollen Sie denn noch hin?“ Die Nachtschwester hatte den Arm voll leerer Infusionsflaschen, während sie an ihm vorbeiging.
„Äh...ich wollte nur eben kurz...“ Er ließ seufzend den Kopf hängen. „Sagen Sie doch Angelo.“
Er wollte sich gerade abwenden, um wieder hineinzugehen, als sie stehen blieb und sich kurz in alle Richtungen umsah. Sie senkte die Stimme. „Süßigkeitenautomat?“
Eine ihrer Augenbrauen hob sich verschwörerisch.
Aus einem unerfindlichen Grund hatte auch Angelo plötzlich das Bedürfnis zu flüstern. „Ist das jetzt ein...“ Er zögerte. „...Codewort?“
„Nein!“ Sie lachte laut auf. „Ich wollte wissen, ob Sie auf dem Weg zum Süßigkeitenautomaten im Foyer sind.“
Erleichtert griff er nach dieser Vorlage und auch seine Stimme hatte wieder eine normale Lautstärke angenommen. „Ach so! Ja, genau!“ Er nickte eifrig, da begann sie erneut, leiser zu reden.
„Können Sie mir vielleicht einen Twix mitbringen? Geld gebe ich Ihnen, sobald Sie wieder da sind.“
„Ja, natürlich. Gar kein Problem!“ Er wühlte instinktiv in seinen Hosentaschen, wo er zum Glück ein paar Münzen fand.
Jetzt durfte er es nur nicht vergessen. Aber erst einmal musste er zu Mel. Gerade setzten sich seine Füße in Bewegung, da wurde er schon wieder aufgehalten. „Der Fahrstuhl scheint kaputt zu sein. Nehmen Sie die Treppe, falls Sie sich das körperlich zutrauen.“
Ein leises Stöhnen entwischte ihm, doch dann drehte er Richtung Treppenhaus ab.
Wagemutig spähte Mel in den Stationsflur hinaus.
Vielleicht war dies ihre einzige Chance! Aber dieser vermaledeite Fahrstuhl!
Ein Ausweg bot sich, als ihr Blick auf eine gläserne Tür mit Kunstholzrahmen fiel, die hinter sich eine Treppe preisgab.
Sie gab sich einen Ruck, stolperte, so schnell sie konnte, vorwärts und schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich vor dem ankommenden Handwerker zu verbergen.
Das war knapp gewesen! Aber nichtsdestotrotz war es ihr geglückt! Jetzt musste sie nur noch die eine Etage hinaufkommen. Wäre ja gelacht.
Ächzend schleppte sie sich Stufe um Stufe voran, ein kaum verständliches Liedchen murmelnd. „We climb a step,
every day and every night...“
Sie hatte gerade den mittleren Treppenabsatz erreicht, da ließ sie das Zuknallen einer Tür aufblicken.
„Was machst du denn hier?“ Erschrocken hatte Angelo auf halber Treppe innegehalten, um nicht mit Mel zusammenzustoßen, dann breitete sich Freude in seinem Gesicht aus.
„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen!“
Er zuckte die Achseln. „Der Fahrstuhl ist kaputt.“
„Ich weiß. Wo wolltest du hin?“
„Zu dir. Und du?“
„Zu dir.“ Beide kicherten.
„Hat hier etwa gerade jemand ein Kellylied gesungen?“
„Möglich.“ Sie grinste ihn frech an. „Und jetzt?“
„Zu mir oder zu dir?“ Er deutete untermalend mit dem Arm jeweils nach oben und unten.
„Dann zu mir. Ich glaub, ich muss mich dringend hinlegen.“ Matt wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
„Alles klar. Also Kehrtwendung und Marsch!“ gab Angelo im Befehlston vor und Mel tat, wie ihr geheißen.
„Warte! Ich bin nicht so schnell!“ Sie versuchte noch, ihn zu bremsen, aber er hatte sie unlängst überholt, als sie ins Straucheln geriet.
„Au! Hilfe! Au!“
Er hatte sie noch auffangen wollen, doch es war zu spät gewesen! Sie stürzte auf ihn, sie drehten sich einmal umeinander, bis er schließlich auf ihr zum Liegen kam. Die Hände hatte er neben ihrem Kopf aufgestützt, so dass seine langen Haare in ihr Gesicht hingen.
„Hey, alles okay?“ Mit aufgerissenen Augen wartete er auf eine Reaktion ihrerseits.
„Ich weiß nicht.“ antwortete sie gepresst.
Also ganz so hatte er sich das zwar nicht vorgestellt, aber...
Ein kehliger Schmerzensschrei drang aus ihrem Hals, als ihr Körper sich verkrampfte.
„Geh runter! Sofort!“ brüllte sie und schob ihn mit beiden Händen von sich.
Ihr entwich ein erlösender Seufzer, dann schloss sie zähneknirschend die Augen.
„Angelo, bitte sag mir, dass du mich gerade vor Schreck angepinkelt hast.“
„Was? Ne! Das habe ich ganz bestimmt nicht!“ Verwirrt runzelte er die Stirn.
„Dann ist vermutlich eben meine Narbe aufgeplatzt.“ Als sie den Kopf anhob und das Kinn auf die Brust legte, erkannte sie schon, wie sich das dekorative Krankenhaushemd auf Oberschenkelhöhe mit roter Farbe vollsaugte. Intuitiv wanderte ihre Hand an die betroffene Stelle.
„Uhhhhh und jetzt setzt der Schmerz ein.“ Zischend zog sie die Luft zwischen den Zähnen ein.
„Was kann ich tun?“ fragte Angelo panisch, der sich, Gott sei Dank, nicht verletzt hatte.
„Hol Hilfe!“ schrie sie nun und mit einem gleichmäßigen Pochen in ihrem Bein setzten auch die Tränen ein.
Die Idee war gut. Hilfe holen! Vor allem müsste er in der Zeit nicht das ganze Blut sehen.
„Ich bin sofort zurück!“ Er wollte losrennen, aber von dem Lärm waren bereits diverse Nachtdienste ins Treppenhaus gelockt worden.
„Was ist denn hier los?“ Empört stemmte ein schlanker Pfleger im mittleren Alter die Fäuste in die Seite.
„Sie ist, also wir sind gefallen.“
„Und was macht ihr um diese Uhrzeit hier?“
„Ähm...könntet ihr mir nicht lieber mal helfen?!“ Mel hatte zitternd eine blutige Hand in die Luft gehoben, um auf sich aufmerksam zu machen.
Der Pfleger schien sie tatsächlich jetzt erst wirklich wahrgenommen zu haben, hockte sich nun aber zu ihr und sah sie ruhig an.
Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.
„Hi, ich bin Stefan. Und du heißt?“ Eine sonderbar besonnene Aura umgab ihn. Er strahlte etwas aus, dass man das Gefühl bekam, er hätte alles unter Kontrolle. Immer.
„Ich bin Mel. Und ich blute. Und es tut höllisch weh.“ schluchzte sie.
„Ich weiß. Wenn die Ärztin gleich da ist, wird sie dir was gegen Schmerzen geben. Von welcher Station kommst du denn?“
„Von der 3.“
„Ich werde jetzt einmal unter das Hemd auf die Wunde gucken. Ist das okay?“
Sie nickte, während sie sich die Nase am Handrücken abwischte.
Angelo drehte sich wie beifällig weg, als Stefan die Blutungsursache inspizierte. Just in dem Moment erschien hinter ihm eine weitere Schwester, die einen Korb mit Verbandsmaterial in der Hand hielt.
„Hier. Können Sie ihm einfach anreichen, was er braucht? Ich hol schon mal das Bett.“
Sie drückte dem jüngsten Kelly das Körbchen in die Hand und eilte davon.
„Die Wunde ist tatsächlich offen. Das muss noch mal genäht werden.“ Stefan sah sich um, bis er sein Arbeitsmaterial in Angelos Fingern entdeckte, der wie angewurzelt stocksteif neben der Szenerie stand. „Soll ich Kniebeugen machen, oder was? Komm mal hier runter!“ wies er ihn in seinem flapsig-dominanten Tonfall an, so dass er zugleich Folge leistete.
Die grelle Treppenhausbeleuchtung verstärkte Angelos fahle Gesichtsfarbe, doch tapfer riss er sich zusammen.
„Stefan! Du hier?“ quietschte die junge Ärztin, die mit flinken Schritten die Stufen hinunterkam. Sie trug einen halblangen Kittel und über ihre Schulter hing ein langer blonder Pferdeschwanz.
„Claudi! Auch wieder im Dienst?“ Freundschaftliche Blicke wurden ausgetauscht, als sie zu ihnen dazustieß.
„Hallo, mein Name ist Engel.“
Mel verdrehte die Augen. Eigentlich hatte sie derzeit von Engeln wirklich genug. Aber gut, diesen einen würde sie wohl auch noch ertragen.
Mit sachkundigen Handgriffen hatten sie schnell die Wunde provisorisch versorgt, damit Mel wieder transportfähig war. So saß sie kurz darauf in ihrem Bett und wurde aus Angelos Blickfeld gebracht.
Dieser verharrte nach wie vor im Treppenhaus, als wäre er an Ort und Stelle festgefroren.
Oh Mann, jetzt würde sie noch einmal in den OP müssen! Hoffentlich war es nicht zu schlimm! Wie sollte er das Paddy nur erklären?! Mist! Der musste ja auch noch Bescheid wissen!
Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigte viertel vor zwölf an, aber in der Regel saß Paddy noch lange wach. Doch heute klang er verschlafen, als er abnahm.
„Was willst du denn jetzt?“ grummelte er, ohne das Licht anzuknipsen.
„Es ist was passiert.“ begann er vorsichtig und Paddy ahnte das Schlimmste.
„Hat es etwas mit dir und Mel zu tun?“
„Ja, schon irgendwie.“
Nun war Paddy wach. Wacher ging‘s nicht.
„Was ist passiert?!“ Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort aushalten konnte, aber er musste es einfach fragen.
„Also wir sind gestolpert und dann gefallen und dann lag ich irgendwie auf ihr drauf -“
„Angelo!“ unterbrach Paddy ihn wutschnaubend. „Wir zwei sind geschiedene Leute!“
„Jetzt lass mich doch ausreden! In der Hinsicht ist nichts passiert! Sie hat sich verletzt und muss jetzt noch mal genäht werden.“
„Wie schlimm? Wo ist sie? Gib sie mir!“ Aber die Erkenntnis, dass er offensichtlich zu schwarz gesehen hatte, brachte leider nicht die gewünschte Erleichterung. Zu groß war die Sorge um seine Frau.
„Sie haben sie schon mitgenommen.“
„Ich komme.“
Es dauerte nicht lange, bis Paddy das Foyer betrat, wo Angelo dabei war, mit einem Süßigkeitenautomaten zu kämpfen. Ungeduldig klopfte er mit Nachdruck dagegen.
„Das blöde Ding hat mein Geld gefressen und will den Twix nicht ausspucken.“
„Du sollst ohnehin nicht so viel süßes Zeug essen.“ Anspannung war in sein Gesicht gezeichnet, als er sich seinem Bruder näherte.
„Das ist nicht für mich. Das soll ich der Nachtschwester mitbringen.“
„Und das soll dir einer glauben? Egal. Wo ist Mel?“
„Noch im OP. Du hast ja nicht lange braucht, um herzukommen.“ Er begann, gleichmäßig mit der Faust gegen den Automaten zu hämmern.
„Jetzt lass doch mal das Ding in Ruhe!“
„Ich brauch aber den Twix!“ Er wühlte in seiner Hosentasche. „Da ist mein letztes Geld drin!“
„Wie kann man nur so verzweifelt sein?“ Paddy reichte Angelo eine Mark, damit dieser endlich Ruhe geben würde.
Er warf die Münze in den vorgesehen Schlitz und gemächlich setzte sich die Spirale, von der die Schokoriegel gehalten wurden, in Bewegung. Und drehte weiter und weiter.
„Jackpot!“ rief Angelo und betrachtete freudig, wie drei Twix hinabfielen, bevor das Gerät wieder stoppte.
„Hier, du kriegst auch einen.“
„Wie großzügig.“
„Na, ich hab doch noch zwei.“
„Ich dachte, einer ist für die Nachtschwester?“
„Ja, ist er auch!“
„Logisch.“ Trotz der ernsten Situation konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen, während sie aufbrachen. Doch als Angelo den Weg Richtung Treppenhaus einschlug, blieb er stehen.
„Du willst nicht wirklich zu Fuß nach ganz oben?!“
„Der Fahrstuhl ist kaputt.“ Er deutete auf die erloschene Anzeige. „Wir haben also keine Wahl.“
Während sie die Stufen erklommen, verebbte der Gesprächsfluss immer mehr, bis er schließlich in der fünften Etage komplett versiegte. Doch als Mel wieder aus dem OP kam, hatten sich ihre Vitalfunktionen wieder komplett normalisiert.
„Was machst du denn mitten in der Nacht hier?“ Müde griff sie nach Paddys Hand, als sie endlich wieder in ihrem Zimmer lag.
„Angelo hat mich angerufen.“
Entschuldigend zuckte dieser die Achseln. „Er muss doch Bescheid wissen.“
„Und ich musste wenigstens sehen, ob es dir gut geht.“
Schwach zog sie ihn zu sich heran und gab ihm einen Kuss.
„Und geht‘s dir gut?“
„Ich glaube ja. Die haben mir wieder dieses wahnsinnig gute Zeug gegeben.“ Sie kicherte matt.
„Dann will ich da auch was von!“ bettelte Angelo, doch gerade ertönte eine neue, aber bekannte Stimme hinter ihnen.
„Angelo Kelly. Sie bekommen gleich was ganz anderes hier! Sehen Sie zu, dass Sie wieder in ihr Zimmer kommen. Es ist mitten in der Nacht. Ich dachte, Sie wollten nur eben zum Süßigkeitenautomaten?“
Angelo hatte es nicht gewagt, die Schimpftirade seiner Stationsschwester zu unterbrechen. Er wunderte sich allerdings, wie diese hier auf Mels Station kam. Doch nun antwortete er zaghaft.
„Ja, da war ich ja auch. Aber dann...“
„Dann wollten Sie doch lieber noch junge Damen besuchen?“ Aber jetzt zwinkerte sie. „Stefan ist oben und hat mir erzählt, was passiert ist. Sie müssen dennoch jetzt wieder ins Bett.“
Auch wenn er ihr gerne widersprochen hätte, war der Gedanke auf eine warme Decke mit einem kuscheligen Kissen einfach zu verheißungsvoll.
Die Schwester sah, dass sie gewonnen hatte, dann runzelte sie die Stirn.
„Wo ist eigentlich mein Twix?“
„Hier.“ Triumphierend zu Paddy blickend zog er die geschmolzene Köstlichkeit aus seiner Hosentasche.
„Ist nur ein bisschen warm geworden.“ murmelte er entschuldigend zur Nachtschwester, als er ihr den Riegel überreichte. Er war sich nicht sicher, was in ihrem Gesicht überwog, der Ekel oder die Enttäuschung.
Er verabschiedete sich und folgte ihr.
Und auch Paddy zog es wieder nach Gymnich, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Natürlich lag über dem Schloss noch schlafende Stille, als er es betrat. Immerhin war ja nicht einmal Angelos Schnarchen zu hören.
Eigentlich hatte Paddy früher am Abend mit Kira reden wollen, doch da hatte sie gerade mit Meike zusammen in der Küche gesessen. Er hatte dies als willkommene Ausrede genommen, das Gespräch über seinen Schwangerschaftskommentar gegenüber Angelo aufzuschieben, doch irgendwann musste er ihr beichten, dass er sich verplappert hatte. Aber dann war er auf seinem Bett eingeschlafen, bis Angelo ihn mit seinem Anruf aus dem Schlaf riss.
Jetzt lag sie natürlich wie alle anderen längst in den Federn. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als morgen früh den Gang nach Canossa anzutreten.
Doch vorerst brauchte er seinen Schönheitsschlaf.
Die Stimmung beim Frühstück war mehr als verhalten. Alle wussten natürlich inzwischen, was vorgefallen war, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Keiner wollte Kira gerne ziehen lassen, doch alle konnten sie verstehen. Von der Schwangerschaft wussten sie allerdings noch nichts. Bis auf Meike und Paddy.
Und Angelo.
Im Gegensatz zu den anderen, lag Paddy jedoch noch im Bett. Die nächtliche Tour hatte seinen Tagesrhythmus nun vollständig zum Erliegen gebracht.
Als der Tisch bereits abgeräumt und nur noch Paddys Platz unberührt zurückgeblieben war, ging Jimmy nach seinem Bruder schauen.
„Hey! Was schläfst du denn noch?“ rief er munter, nachdem er zwar mit einem kräftigen Klopfen, aber ohne auf eine Antwort zu warten, ins Zimmer gestürmt war.
Paddy war erschrocken zusammengezuckt und riss reflexartig die Decke bis zur Nasenspitze hoch.
„Himmel, Jimmy! Was willst du?“ Doch unverzüglich hielt er inne. „Wie spät ist es?“
„Halb neun. Alle sind satt, Kira ist eben abgefahren und die anderen sind bereit zum Abmarsch ins Studio. Was ist mit dir?“
Paddy reagierte nicht. Und das so lange, dass Jimmy schon begann, sich Sorgen zu machen.
„Alles okay?“
Sein Bruder erwachte aus seinem Tagtraum. Eigentlich Nachttraum. Die Ereignisse, die erst vor einigen Stunden geschehen waren, hatten ihn wieder erfasst.
„He, Paddy.“ Jimmy stieß ihn vorsichtig an. „Was ist denn los?“ Seine aufgedrehte Miene hatte er fallen gelassen, Neugier lag nun auf seinem Gesicht.
„Es ist nur...ich war heute Nacht noch einmal im Krankenhaus.“
„Wieso?“ Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Mel“ er atmete einmal tief durch. „und Angelo sind gestürzt und ihre Narbe am Oberschenkel ist aufgeplatzt oder so. Sie musste auf jeden Fall noch einmal genäht werden.“
„Na, dann ist es kein Wunder, dass du noch schläfst. Wie geht‘s ihr denn jetzt?“
„Jetzt weiß ich nicht, aber heute Nacht ging es dann. Sie hat gute Schmerzmittel bekommen. Darüber hat sie sich gefreut.“ Er schmunzelte leicht.
„Schlaf dich aus und komm doch dann nach. Wir machen dann erst die Dinge, die eben ohne dich möglich sind.“
„Dann seid ihr wohl aufgeschmissen.“
„Wie bitte?“
„Kleiner Scherz.“ Er schlug die Decke beiseite und rutschte zur Bettkante. „Nettes Angebot Jimmy, aber es ist schon viel zu spät. Eigentlich wollte ich noch zu Mel, das schaffe ich nun auch nicht mehr.“
Er schlüpfte in seine Klamotten vom Vortag und bog Richtung Badezimmer ab.
„Und du sagst Kira ist schon weg?“
Dumpf drang seine Stimme zu Jimmy, der sich statt seiner in Paddys noch warmes Bett gelegt hatte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
„So ist es. Vor einer viertel Stunde sind sie abgefahren.“
„Mist.“ murmelte Paddy, als er kurz darauf wieder ins Zimmer kam. Er war noch dabei, sich mit einem Handtuch die Zahnpasta vom Mund zu wischen, als er seinen Bruder in seinem Bett erspähte.
„He! Raus da! Und dann noch mit Klamotten!“
Er warf ihm zielsicher das Handtuch ins Gesicht.
„Aber es ist so schön warm und gemütlich!“ seufzte Jimmy schwärmerisch und Paddy lachte auf, während er nach seiner Jacke griff.
„Kunststück! Gab ja gestern Bohnen.“
„Bäh! Paddy!“ Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen und folgte den übrigen Kellys nach draußen.
„Fahrt ruhig los. Ich nehme mein Auto, dann kann ich hinterher auch gleich ins Krankenhaus. Ich ruf noch kurz Mel an, dann komme ich nach.“ Er zückte sein Handy, als die anderen abfuhren.
Nach dem zweiten Klingeln ging sie ran. Sie klang ausgeschlafen.
„Lass mich raten, du schaffst es nicht vor dem Studio herzukommen?“
„Nein, leider nicht. Es tut mir wirklich leid.“
„Das ist schon okay. Zum einen war ich froh, dass du heute Nacht da warst und zum anderen sind Kira, ihr Vater und Lena noch hier. Die unterhalten mich noch einen Augenblick und dann werde ich mir wahrscheinlich noch eine Mütze Schlaf genehmigen.“
„Ich gebe zu, ich bin ein wenig erleichtert, dass du es mir nicht krumm nimmst.“
Er dachte noch kurz darüber nach, ob er mit Kira am Telefon sprechen sollte, aber wenn sie schon bei Angelo gewesen waren, bevor sie zu Mel kamen, hätte sich das Thema ohnehin erledigt. Von daher verabschiedete er sich bis zum Abend und machte sich auf den Weg zu seinen Geschwistern.
Kira sah nachdenklich in die Runde. „Macht es euch etwas aus, wenn ich jetzt schon zu Angelo gehe? Ich würde gerne alleine mit ihm reden.“
Alle schüttelten die Köpfe, so umarmte sie Mel und verließ den Raum.
Irgendwann musste es raus und es war nun einmal auch kein Umstand, den man dauerhaft verbergen konnte.
Mit sehr kleinen Schritten war Kira unterwegs in den vierten Stock.
So richtig scharf war sie auf das Gespräch immer noch nicht, aber Meike hatte Recht; Angelo musste erfahren, dass sie ein Kind bekommen würde.
Schließlich kam sie bei ihm an und auf ein zögerliches Klopfen folgte eine freundliche Einladung.
„Hallo.“ begann sie vorsichtig und ging langsam auf Angelo zu, der gedankenverloren aus dem großen Fenster gesehen hatte. Er drehte sich um, die Hände in den Hosentaschen. Gott sei Dank hatte ihn keiner mehr zu einem Hemdchen genötigt.
Als er sie erblickte, wurde sein Gesicht ernst.
„Stimmt es, dass du schwanger bist?“ fragte er ohne eine Begrüßung.
Erstaunen huschte über ihr Gesicht, erstarrte und hinterließ den Ausdruck schier endloser Verwirrung, bis sie von der Erkenntnis getroffen wurde. „Paddy.“
Angelo nickte. „Ja, ich weiß es von Paddy! Aber eigentlich hätte ich das von dir erfahren sollen!“
Beschämt senkte sie den Kopf.
„Also stimmt es wirklich? Na ja, deine Reaktion lässt daran nicht viel Zweifel.“ Ungläubig zog er die Hände aus den Taschen und fuhr sich mit einer durchs offene Haar.
„Ja, es stimmt.“
„Wir bekommen ein Baby?“ fragte er überflüssigerweise, doch langsam schüttelte sie den Kopf.
„Nein, Angelo. Du wirst Vater, ich werde eine Mutter, aber wir bekommen gar nichts. Außer vielleicht das geteilte Sorgerecht.“
Es lag nicht nur an seinen Medikamenten, dass Angelo sich mit einem mal so fluffig fühlte.
Wie in Watte gepackt, versuchte er, die Welt wieder zu verstehen, bekam dazu jedoch kaum Gelegenheit. Kira hatte die Schultern geradegerückt, nickte wie beiläufig, als würde sie sich selbst etwas bestätigen und schritt Richtung Tür.
Wut flammte in ihm auf.
„Du kannst mir doch nicht vor die Füße werfen, dass ich Vater werde und dann einfach so verschwinden!“
Sie hielt inne und drehte sich aufgebracht zu ihm um.
„Ich verschwinde nicht einfach so, sondern weil du mir das Herz gebrochen hast! Ich muss mich auf den Vater verlassen können und will nicht ständig damit rechnen müssen, dass dieser mit dem Schwanz wedelt, sobald die Nächstbeste vorbeiläuft!“
„Das passiert nie wieder!“
„Vor 72 Stunden hättest du mir geschworen, dass so etwas überhaupt nie passiert!“
Betreten ließ er den Kopf sinken.
Natürlich hatte sie Recht! Und er wusste beim besten Willen nicht, wie er sie davon überzeugen konnte, ihm wieder zu vertrauen. Eigentlich vertraute er sich selbst nicht mehr wirklich.
Durch seine stumme Zustimmung fand sie ihren Antrieb wieder und setzte den Weg fort.
„Mach‘s gut. Ich melde mich spätestens, wenn das Kind da ist.“
Seine zum Einwand erhobene Hand ignorierte sie und verließ unbeirrt den Raum.
Sprachlos sah er ihr nach, bevor sich seine Starre löste und er ihr nacheilte.
„Kira! Jetzt warte mal! Das kannst du nicht machen!“ Noch etwas lauter fügte er hinzu: „Und das ist mein Ernst!“
Sie war tatsächlich stehengeblieben, aber dafür schrie sie ihn nun an, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.„Was kann ich nicht machen?! Mich schützen?“
„Wovor denn schützen?“
„Na, vor dir!“ Ihre Stimme überschlug sich fast und rief eine Schwester auf den Plan.
„Es kann sein, dass Emotionen mal hochkochen, aber nicht in dieser Lautstärke. Ich muss Sie bitten, sich zu mäßigen!“
Kira nickte entschuldigend und die Schwester ging wieder.
Beklemmende Stille hing in der Luft.
Vorsichtig warf Kira Angelo einen Blick zu, der sie seinerseits ziemlich verletzt musterte.
„Es tut mir leid, Kira. Mehr kann ich nicht sagen.“
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals mühsam herunter, bevor sie reagierte.
Sie sprach ruhig, aber bestimmt, wirkte fast abwesend.
„Ich möchte dich vorerst nicht mehr sehen. Ich bitte dich auch, Abstand von solch albernen Eskimoaktionen zu nehmen. Das ist nicht das Niveau, das ich jetzt von dir erwarte. Bitte melde dich nicht bei mir.“
Sie ging einen Schritt weiter, bevor sie sich erneut umdrehte, doch er war derjenige, der zu reden begann.
„Meldest du dich?“ Hoffnungsvoll hingen seine Augen an ihren Lippen.
„Ja. Irgendwann.“
„Versprochen?“
Sie nickte und ging.
Fröhlich schwatzend erreichten die Kellys die Tür vom Studio, die unverzüglich geöffnet wurde. Vor ihnen stand eine strahlende Tirza, die sie fröhlich begrüßte.
Die Erwiderung fiel nicht ganz so freundlich aus, als sie an ihr vorbeigingen.
„Wo ist Angelo denn?“ Suchend schaute sie nach draußen, ob noch jemand am Wagen wäre, schloss dann aber die Tür hinter sich.
„Nicht da.“ erbarmte Jimmy sich, ihr überhaupt eine Antwort zu geben.
„Das sehe ich.“ Schnippisch verschränkte sie die Arme. „Und wo ist er?“
„Was geht dich das an?“ Meike gab sich nicht die geringste Mühe, nett zu Tirza zu sein und schob Jimmy langsam weiter.
„War ja nur eine Frage.“ brummte diese und setzte sich neben ihrem Vater hinter das Mischpult.
Es dauert nicht lange, bis auch Paddy die Räumlichkeiten betrat.
„Ha! Wie siehst du denn aus?“ Tirza lachte übertrieben schrill. Sie war aufgesprungen und streckte die Hand nach seiner lila Mähne aus, doch er wich zurück.
„He, nicht anfassen!“
„Hab dich doch nicht so.“
„Na, ich fummel ja auch nicht einfach an dir herum!“ grummelte er und stellte seine Gitarre auf dem Sofa in der Ecke ab, bevor er seine Jacke aufknöpfte
„Wieso denn nicht? Tu dir keinen Zwang an.“
Sie warf sich demonstrativ in Pose und Paddy verdrehte die Augen.
„Nein, danke. Und es wäre auch schön, wenn du dich von meinen Brüdern fernhalten würdest!“
Ohne sie weiter zu beachten, ging er zu seinen Geschwistern.
Die nächsten Stunden hielt Tirza sich zurück und die Aufnahmen, die sie für den heutigen Tag geplant hatten, waren verhältnismäßig schnell im Kasten.
„Lasst uns eine Pause machen und dann hören wir noch mal alles in Ruhe durch.“ seufzte Patricia und die anderen stimmten ihr dankbar zu.
Jimmy setzte sich hin und griff nach der Thermoskanne. Dieses Mal hatte Meike vorgesorgt. Das wäre ja noch schöner, wenn Tirza sich wieder mit Kaffee bei den Jungs einschmeicheln würde.
Leider war sie die Einzige, die so weit gedacht hatte. Von daher erfreute sich ihr Kaffee allergrößter Beliebtheit und war in zehn Minuten leer.
„Hey, ich hol mal Nachschub.“ Tirza drehte sich auf dem Absatz um und ging in einen kleinen Nebenraum, um ihre Jacke zu holen.
Meike folgte ihr auf dem Fuße. Die beiden waren etwa gleich groß, doch Meike streckte sich noch etwas, um vielleicht ein paar Zentimeter herausschlagen zu können, als sie sich vor ihrer Kontrahentin aufbaute.
„Tirza, lass deine Finger von den Jungs! Ich weiß, was hier vorgeht!“
Nachdrücklich wedelte sie mit dem Zeigefinger vor Tirzas Nase herum, während die andere Hand in die Taille gestemmt war. Doch Tirza ließ sich nicht im geringsten beeindrucken.
„Ach? Was geht hier denn vor?“ Süffisant grinsend zog sie ihren Mantel an.
„Na ja, es ist nicht zu übersehen, wie du dich an sie heranmachst!“
Am liebsten würde sie ihr die Augen auskratzen, doch das ginge wahrscheinlich nach hinten los! Dafür war sie einfach zu ungeübt in solchen Dingen. War eigentlich auch ganz gut so.
„Hör bloß auf, so blöde zu grinsen! Alle wissen, was mit Angelo passiert ist!“
Tirzas Grinsen wurde noch breiter.
„Oh und jetzt hast du Angst, dass dein Freund sich auch für mich interessieren könnte? Tja, wenn das so sein sollte, kann ich nur sagen…“ Einen kurzen Moment hielt sie inne, als sie den Reißverschluss zuzog und blickte auf. „Pech gehabt, Keule.“ Sie schnaubte noch einmal spöttisch, dann ging sie und ließ Jimmys Freundin einfach stehen.
Wut war gar kein Ausdruck! Meike tobte innerlich. Was erlaubte sich diese Schnepfe?
Eigentlich wollte sie Jimmy gleich erzählen, was passiert war, aber der steckte mit seinen Geschwistern die Köpfe zusammen! Das Thema Pause hatte sich offenbar schon wieder erledigt.
Unschlüssig sah sie hin und her. Sollte sie einfach abhauen? Sie hatte das Gefühl, Tirza nicht den Rest des Tages ertragen zu können. Oder auch nur noch eine weitere Minute! Aber andererseits war sie der letzte Fels in der Brandung der Kelly Freundinnen. Kira und Mel konnten oder wollten beide nicht hier sein. Sollte sie weiter den Spott über sich ergehen lassen oder einfach Jimmy seinem Schicksal überlassen?
Sie entschied sich dafür, Jimmy zu vertrauen und sich selbst nicht mehr dieser selbstverliebten Ziege auszusetzen.
Sie beugte sich zu ihrem Freund hinunter, flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser nickte. Bald darauf war sie verschwunden.
„Paddy kann ich nach dem Studio mal mit dir reden?“ fragte Maite später in einer kurzen Pause.
Unglücklich zog er die Stirn in Falten.
„Aber ich wollte danach zu Mel ins Krankenhaus.“
„Ich weiß, aber es ist wichtig! Ich brauche deinen Rat.“
„Worum geht es denn?“
Maites Blick fiel auf die umstehenden Familienmitglieder.
„Lass uns später darüber sprechen. Wir können ja auf einen Absacker ins La Patata gehen.“
Paddy hielt abwehrend die Hände vor die Brust.
„La Patata meinetwegen, aber den Absacker kannst du alleine trinken.“
Maite war einverstanden.
„Wann bist du denn mit Mel verabredet?“
„Wir haben keine Zeit ausgemacht. Ich weiß ja nicht, wie lange wir hier brauchen.“
„Umso besser.“ nickte seine Schwester, dann mischten sie sich wieder unter die anderen.
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Werk des Tages als vollendet betrachteten und in alle Himmelsrichtungen auseinander stoben.
Wie verabredet, ließen Paddy und Maite sich kurz darauf an einem kleinen Tisch im Restaurant nieder, wo ihnen der Kellner gleich je eine Karte vor die Nase legte.
„Was essen könnte ich auch gut.“ stöhnte Maite und schlug erwartungsvoll das Menü auf. Paddy wurde schnell fündig und teilte dem Kellner seine Wünsche mit, noch bevor Maite sich ihrer sicher war. Doch dann hatte sie sich entschieden. „...und einen Whisky-Cola, bitte.“ schloss sie ihre Bestellung ab und klappte die Karte wieder zu.
Dann wandte sie sich Paddy zu, der sie erstaunt ansah.
„Was hast du denn vor?“ fragte er neugierig in Bezug auf ihre Getränkeauswahl.
„Mut antrinken.“ seufzte sie und fing an, seinem Blick auszuweichen.
Seine Neugier wuchs weiter.
„Na, das muss ja etwas ganz Schlimmes sein, was du mit mir besprechen willst. Hast du etwas angestellt?“
„Nein.“
„Hast du vor, etwas anzustellen?“
„Nein. Also nicht direkt.“
Er seufzte. „Ich hasse diese „nicht direkten“ Angelegenheiten. Also raus mit der Sprache!“
„Ich hab doch noch gar keinen Mut angetrunken!“ protestierte sie vehement.
„Kommt ja schon.“ lachte der Kellner und drückte ihr das volle Glas in die Hand.
Sie trank es auf ex.
Paddys Mund klappte zu. Ohne die Augen von seiner Schwester zu lösen, hob er eine Hand, um den Kellner aufzuhalten. „Ich hätte auch gerne so einen.“
„Und ich noch einen.“ ergänzte Maite. „Aber wieso trinkst du jetzt doch?“
„Irgendwas an deinem Verhalten sagt mir, dass es ernst wird. Und dass es besser wäre sich mit etwas zu bewaffnen, das einem gegebenenfalls die Erinnerung daran rauben kann.“
„Ja ja, die Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Ich bin ja schon da.“ lachte Bono und platzierte den Nachschub.
„Okay, ich bin gewappnet.“ Seine Hand fest um das Glas gelegt, war er nun ganz Ohr, aber Maite fiel es nach wie vor nicht leicht, einen Anfang zu finden.
„Also du weißt, das mit Sam und mir.“
„Ja, sicher. Was ist mit euch? Ihr habt euch doch nicht getrennt?“
„Nein, haben wir nicht.“ Sie schluckte. „Aber er zieht weg. Er geht zum Studium nach Berlin.“
„Scheiße.“
Maite nickte und presste die Lippen aufeinander.
„Er hat mich gefragt, ob ich mitkomme.“
„Wie süß.“ Er grinste höhnisch und nahm einen Schluck von seinem Gemisch.
Sie hob den Kopf.
„Ich hab zugesagt.“
Paddy riss seine Augen auf. Er nahm noch einen Schluck.
„Wie bitte?“
„Er möchte, dass wir zusammen in Berlin leben! Paddy! Berlin! Du weißt, wie toll die Stadt ist. Und ich wäre immer in seiner Nähe!“ Ein Leuchten lag in ihren Augen.
„Sind denn jetzt alle verrückt geworden?!“ Er kippte den Rest seines Glases schwungvoll in seinen Rachen und hob die Hand Richtung Theke. „Herr Rüstungsminister?“
„Was sagt Kathy dazu?“
„Das ist es ja. Ich hatte gedacht, du…“ Doch spöttisch lachend wurde sie unterbrochen.
„Vergiss es, Maite! Da musst du alleine durch! Wenn du dir das in den Kopf gesetzt hast, wirst du es ihr auch selber beibringen. Tja und den anderen.“
„Toller Bruder.“ murrte sie. „Ich habe nur gedacht, du hast ihr doch schon häufiger unangenehme Dinge beigebracht.“
„Ja, eben. Ich habe genug auf dem Kerbholz. Da muss ich nicht noch mehr auffallen. Zur Abwechslung bist du dann mal dran.“ Grinsend nahm er dem Kellner die Gläser ab und wenig später kam auch das Essen.
Als die Teller blank geputzt waren, lehnte Paddy sich zurück und faltete die Hände vor seinem gesättigten Bauch.
„Mal im Ernst, Maite. Wie stellst du dir das vor? Wie soll dein Leben aussehen?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„So genau hab ich mir da noch keine Gedanken drüber gemacht.“
„Wie kannst du ihm denn zusagen, bevor du es genau durchdacht hast?“
Sie schwieg betreten.
„Maite, du bist mit einem Haufen Menschen aufgewachsen. Es war immer Trubel um dich herum und jetzt willst du in eine fremde Stadt ziehen, wo du keinen wirklich kennst und Tag für Tag in einer kleinen Wohnung sitzen und darauf warten, dass er wieder nach Hause kommt?“
„Sei nicht so negativ! Ich lerne schnell neue Leute kennen.“
„Und es ist das, was du willst? Bei null anfangen?“
„Wieso bei null?“
„Ja, was machst du denn dann? Willst du weiter Musik machen? Glaubst du, es funktioniert mit dir und der Band über diese Entfernung?“
Maites Kiefer waren angespannt.
„Warum darf ich denn nicht raus?! Jimmy war weg und John auch! Und du nimmst dich auch immer wieder raus! Wieso darf ich das nicht?“
„Also geht es dir eigentlich darum, dass du eine Auszeit brauchst? Oder geht es dir um Sam?“
Inzwischen wurden die leeren Teller entfernt und die Gläser gegen volle ausgetauscht.
„Es geht mir um Sam!“ brachte sie überzeugt heraus, doch für die Antwort hatte sie eine Weile gebraucht.
Mel sah auf die Uhr.
Wo blieb er denn nur?
Es war bereits halb neun und so langsam müssten sie doch mal ein Ende gefunden haben. Aber so richtig konnte man bei denen ja nie wissen. Sie hatte einmal versucht, bei ihm anzurufen, aber er war nicht rangegangen. Das könnte bedeuten, dass sie tatsächlich noch im Studio waren, daher ließ sie von der Idee ab, es auf einem der anderen Handys zu versuchen.
Klar hatte sie am Telefon gesagt, es wäre nicht schlimm, dass er morgens keine Zeit hatte. Aber irgendwie war der Tag ganz schön langweilig gewesen. Kira war ziemlich bald von Angelo zurückgekehrt und sie waren aufgebrochen.
Sonst kam niemand. Außer lauter zig Schwestern, die Mel nervten, auch wenn sie sich eigentlich über die Abwechslung hätte freuen sollen.
Es war ihr schwer gefallen, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Wesentlich schwerer, als sie es erwartet hatte. Aber auf der anderen Seite war sie erleichtert, sich nicht mehr über unangenehme Themen unterhalten zu müssen.
Nachdem der Physiotherapeut sie mehrfach über den Flur gescheucht hatte, war sie erschöpft eingeschlafen.
Sie war sich sicher gewesen gewesen, dass Paddy sie wecken würde und war bitter enttäuscht, als sie von alleine wieder die Augen öffnete.
Um halb elf hatte sie immer noch nichts von ihm gehört. Auch ans Telefon ging er weiterhin nicht.
Es tat ihr leid, dass sich die Aufnahmen offensichtlich so kompliziert darstellten. Ansonsten wären sie ja nicht immer noch im Studio. Er wäre sicher ziemlich müde, falls er noch zu ihr käme. Hoffentlich hatte er dann wenigstens gute Laune. Nicht, dass die sich wieder in die Haare bekommen haben.
Paddy hob derweil sein Glas zum Mund. Schon wieder. Inzwischen fiel ihm auch das Sprechen nicht mehr ganz so leicht. Wobei...reden konnte er im Prinzip gut, doch an der korrekten Artikulation haperte es mittlerweile.
„Wischo versuchd ihrs nich mit nä Fänbetsieung?“ Er stellte sein Getränk wieder auf den Tisch, wo es schwungvoll über den Rand schwappte. „Huch...oh, ich hab noch so‘n Tuch.“ Als wäre es der brillanteste Einfall der Welt, zog er ein gebrauchtes Taschentuch aus seiner Jacke.
„Paddy, dasss doch Misd. Du weischd dasch genau!“
„Aufn Fersuch kämes an. Bescher als alln den Rüggn zusukeern.“
Er kniff die Augen kurz zusammen. „Puh, Maide, ich glaub, es reichd. Lass uns nach Hause fahren.“ Er wühlte in seinen Hosentaschen. „Wo isn der Schlüssl?“
„Hier.“ Bono hielt ihn hoch und schwenkte ihn grinsend hin und her.
„Ich solld bässä nich mehr fahrn, ne?“ Verschmitzt kratzte er sich am Kopf.
„Nein, besser nicht.“
„Könndestu...“
„Das Taxi ist bestellt.“ Er lachte und warf Paddy seinen Autoschlüssel wieder zu. Den er mit einer atemberaubend langsamen Bewegung nicht auffing. Klirrend kam dieser auf dem Boden an.
„Sacht ma, wie späd is das einglich?“ Er suchte blind unter dem Tisch nach dem Bund, während er auf eine Antwort wartete.
Prüfend schaute Bono auf seine Armbanduhr. „Halb zwei gleich.“
Paddy stieß sich vor Schreck seinen Kopf an der Tischplatte. „Bidde? Ich häd schonn lang bei Mel sein solln! Oh nöööö! Wieso hassu überhaubt noch auf?“
„Wir hatten Promibesuch.“ grinste Bono und stellte ein abgetrocknetes Glas ins Regal.
Auf Paddys Gesicht war auf einmal Enttäuschung zu sehen.
„Prommies? Wieso hassu nix gesacht? Ich hab das gar nich nich mitbekomm! Wä wa denn da?“
Bono schlug sich die Hand vor die Stirn. „Mann, Paddy! Es ist wirklich Zeit, dass du nach Hause kommst.“
„Ja, ne! Ersma tsu Mel!“ Er stockte. „Aber wer issenn nu hier gewesn?“
„Paddy!“ Maite war lachend aufgestanden und zog sich ihre Jacke an. Ihr Bruder runzelte die Stirn. „Was isnn? Is dass son Geheimnis?“
Sie verdrehte die Augen. „Er reded von uns!“
„Wittsisch.“ brummte Paddy und stand ebenfalls auf. „Komm, Maide. Wir könn n annermal darüber redn. Ich muschzu Mel. Die is bschtimmd gans böse. Wo isn einglich mein Handy?“ Er wühlte in seinen Taschen, fand jedoch nichts.
„Ich glaub, das wa im Auto.“ meinte seine Schwester, zahlte die Rechnung und sie brachen auf.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, triumphierte er endlich. Er nahm sein Handy an sich und wollte wieder abschließen. Leider war er nicht so klug gewesen, den Schlüssel stecken zu lassen. Nach weiteren Minuten wurde eine vor Kälte zitternde Maite allmählich ungeduldig.
„Nu gib schon her.“ Sonderbarerweise hatte sie keine Schwierigkeiten und sozusagen im Handumdrehen war das Auto abgeschlossen.
Irritiert blickte er sie an.
„Aber wie solln wir nu nach Hause fahrn?“
Maite stöhnte. „Du kanns ohnehin nich mehr fahrn!“
„Ach ja.“ Er hickste. „Waat kurz, ich ruf Mel an.“
Doch seine Schwester riss ihm das Mobiltelefon aus der Hand.
„Du kannstse nich middn in der Nachd anrufn!“
„Aber sie had doch auch angerufn!“ Verwirrt wechselte sein Blick zwischen Maite und dem Handy in ihrer Hand hin und her, bis sie sich seufzend bequemte, es ihm wiederzugeben.„Das war wahrscheinlich vor Stundn!“
Mühsam versuchte er mit zusammengekniffenen Augen, die Zahlen auf dem Display zu entziffern. Zum besseren Erkennen hielt er das Telefon nur wenige Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernt.
„Ja, isch glaub du has Recht. Aber ich rufse trozdem an!“
„Ich würde dich killen! Das kannste nich machn!“
Er zog seine Augenbrauen zusammen.
„Wieso nich?“
„Dassis gleich zwei! Die schläfd!“
„Oh, ja, da könndste recht haben.“
„Da kommd unser Taxi!“ rief Maite freudig und fing an zu winken.
Pflichtgemäß ließ der Fahrer die beiden einsteigen und sie waren kaum um die nächste Ecke gebogen, da war von Paddy nur noch ein leises Schnarchen zu hören.
„He! Aufwachen! Wir sinn da!“
Sie stupste ihren Bruder unsanft in die Seite, der daraufhin erschrocken zusammenfuhr.
„Bissu wahnsinnich?“
Schnaufend sprang er aus dem Wagen, während Maite auch diese Rechnung beglich, aber schon kurz darauf, überholte sie ihn auf dem Weg zum Eingang, doch Paddy blieb stehen.
„Scheiße! Wo issn eigentlich mein Handy?“ Stirnrunzelnd durchsuchte er seine Taschen.
„Vielleicht noch im Taxi. Wenn du dich beeilsd, schaffses vlleicht noch.“ Sie deutete wie beiläufig auf das noch wartende Fahrzeug, dann öffnete sie die Haustür und schlüpfte hinein.
Paddy zögerte nicht lange und obwohl das Auto sich langsam in Bewegung setzte, schaffte er es noch, es einzuholen. Er hämmerte gegen das Fenster und sobald der Fahrer wieder hielt, riss Paddy die Tür auf.
„Schorry, is mein Handy hier irgendwo?“
Er streckte den Kopf hinein und durchsuchte den Fußraum. Schnell fand er es.
„Da isses ja!“ Erleichtert hielt er das Fundstück in die Luft.
Der Fahrer verdrehte die Augen.
„Kann ich sonst noch was für Sie tun?!“
Und Paddy überlegte ernsthaft, dann ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen.
„Einma ins Kranknhaus bidde.“
„Mitten in der Nacht?“
Jetzt war es an Paddy, die Augen zu verdrehen.
„Ja, ganz offensichtlich mittn inner Nacht!“
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und der Wagen fuhr los.
„Das hätten Sie sich aber auch früher überlegen können...“ grunzte er noch, dann waren sie bereits wieder auf dem Weg in die Stadt zurück.
„Stümmd.“ nickte Paddy und ärgerte sich selbst ein bisschen, dass er nicht eher daran gedacht hatte, trotz aller Einwände einfach hinzufahren.
War doch egal, dass es schon so spät war, er wollte nun mal zu seiner Frau! Die Tatsache, dass er sie dann ebenso wecken würde, wie wenn er sie angerufen hätte, schien ihn nicht weiter zu stören. Vielleicht war es ihm aber auch einfach nicht aufgefallen.
Erleichtert stellte Paddy vor der Klinik fest, dass er sogar Geld in seinem Portemonnaie hatte. Also bezahlte er den Fahrer und stieg schwankend aus dem Auto.
Die Stufen vor dem Eingang stellten zwar eine Herausforderung dar, doch die bewältigte er quasi spielerisch. Wie Rocky bejubelte er die zehn Stufen, die er gerade erklommen hatte, da öffnete sich bereits die Schiebetür.
Was sollte er nur dem Pförtner sagen?
Doch ein kaum wahrnehmbares Schnarchen war hinter einer Glasfront zu hören, wo tatsächlich ein älterer Herr den Kopf in seine Handfläche gestützt hatte und schlief.
Ja, war denn das die Möglichkeit?! Glück musste der Mensch haben!
Leise schlich er an ihm vorbei und öffnete einige Minuten später die Tür zu Mels Zimmer. Es war nicht überraschend, dass sie im dunklen Zimmer vor sich hinträumte. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich wieder zu.
Die einzige Lichtquelle war der Mond, der seinen Weg durch die offenen Vorhänge fand. Der bleiche Schein fiel auf ihr Gesicht und zeichnete ihren desolaten Zustand in einem noch düstereren Bild. Die dicken Verbände waren zwar kleineren Pflastern gewichen und an einigen Stellen waren verschorfte Wunden unabgedeckt am Abheilen, aber der teilrasierte Kopf und ihre knochige Silhouette gaben ihrem Anblick etwas Tragisches.
Paddy schluckte, als er sie betrachtete.
Sein Mädchen war nicht mehr die, die er vor einigen Jahren kennengelernt hatte. So vieles war geschehen. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Hatte er ihr das je gesagt?
Doch lange hatte sie auch nicht gebraucht.
Er schmunzelte beim Gedanken daran, was für ein Fan-Girl sie gewesen war.
Dann war er ihr Fan geworden. Bis sie ihm das Herz gebrochen hatte. Doch das schien nun nur noch eine ferne Erinnerung zu sein in Anbetracht des Glücks, dass sie überlebt hatte!
So behutsam es ging, stellte er einen Stuhl neben ihr Bett, setzte sich und legte den Kopf neben ihr auf die Matratze.
Es dauerte nicht lange, da war auch er im Land der Träume versunken.
Bis ihn sanfte Finger aus dem Schlaf rissen, als diese mit seinen Haaren spielten.
„Wo kommst du denn her?“ fragte Mel ruhig, als er die Augen öffnete.
„War mit Maide unterwegs.“
„Hast du getrunken?“ Seine Fahne konnte man ebenso wenig wie seine glasigen Augen ignorieren.
„N bisschen vielleicht.“
„Das klingt nach einer leichten Untertreibung, Herr Kelly. Hier, nimm mal ein Glas Wasser.“ Sie hielt ihm eines unter die Nase, nach dem er dankbar griff und es mit großen Schlucken leerte.
„War irgendwas?“ Es kam ihr seltsam vor, dass Paddy sich nur mit seiner Schwester zusammen die Kante gegeben haben sollte.
„Ja, schon irgendwie.“
„Was heißt das?“
Er richtete sich auf und zog aus seiner Hosentasche einen Zopfgummi, mit dem er sich nun die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
„Maite will wohl die Band verlassen. Aber lass uns nicht davon redn. Wahrscheinlich sollte ich dir das gar nich sagn.“
Mels Kinnlade war heruntergefallen. „So etwas anschneiden und dann nichts weiter sagen, ist ein absolutes No-Go!“
Stur verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Also gut.“ gab er auf und gab ihr eine Kurzfassung. „Sam geht nach Berlin und sie möchte mitgehen. Sie hat ihm sogar schon zugesagt.“
Mels Augen wurden immer größer.
„Das gibt’s doch gar nicht!“ rief sie empört, aber dann streckte sie einen Fuß unter der Decke hervor und rutschte an die Bettkante. „Könntest du mir kurz ins Bad helfen?“
„Ja, sicher.“ Er stand auf und griff nach ihrer Gehhilfe. „Wo ist denn die andere?“
„Die ist weg. Reich mir doch einfach deinen Arm! Dann habe ich es leichter.“ versuchte sie schnell seine Frage abzuhaken.
Er hielt ihr zwar daraufhin seine Hand hin, mit der Antwort gab er sich allerdings nicht zufrieden.
„Die kann doch nicht einfach weg sein! Wann hast du sie denn zuletzt gehabt?“
Sie stellte sich auf die Beine und suchte Halt bei ihm.
„In der Fahrstuhltür steckend. Sag der Schwester nichts! Und jetzt will ich nicht mehr darüber reden!“
Sie setzten sich in Bewegung, kamen jedoch nicht weit.
„Mann, Paddy, jetzt geh doch mal aufrecht! So kann ich mich überhaupt nicht abstützen!“
Aber Paddy fiel es vor Lachen sichtlich schwer, sich gerade zu halten.
„Entschuldige! Du hast also nicht zufällig etwas mit dem defekten Fahrstuhl von letzter Nacht zu tun?“ Er schnappte gröhlend nach Luft.
„Ja ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu Sorgen...“ brummte Mel und schleppte sich weiter vorwärts.
„Was haben die anderen zu Maites Plan gesagt?“
„Die wissen es noch nicht.“ Sie waren angekommen und Paddy öffnete die Badezimmertür.
„Den Rest schaffe ich schon. Danke.“ Mit einem flüchtigen Lächeln schloss sie die Tür hinter sich.
In der Tat war das letzte Stück kein Problem mehr für sie. Zum einen wurden die Schmerzen allmählich weniger, daher nahm auch ihre Beweglichkeit zu, und zum anderen hatte man ihr am Nachmittag eine Schiene abgenommen, dadurch war ihre Bewegungsfreiheit wieder deutlich größer geworden. Immerhin war es nun keine Unmöglichkeit mehr, alleine aufs Klo zu gehen. Das mit dem Hinsetzen war vorher einfach sehr schwierig gewesen.
Allmählich ging es voran. Sie konnte es nicht verleugnen. Aber es würde noch sehr lange dauern, bis die Spuren nicht mehr zu sehen sein würden.
Sie drückte die Spülung hinter sich und humpelte zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Die rötliche Färbung des Desinfektionsmittels war natürlich inzwischen ausgewaschen, doch ihre langen blonden Haare auf der einen Seite bildeten einen krassen Gegensatz zu dem kahlen Gegenüber. Immer noch ungläubig fasste sie an die nachwachsenden Stoppeln. Ein paar Millimeter, mehr waren da nicht. Und mittendrin die Narben. Oder eher die abheilenden Wunden. Was an Narben zurückbleiben würde, wusste sie noch gar nicht! Vielleicht würde sie auf ewig entstellt sein.
Obwohl sie ihr Spiegelbild eingehend betrachtete, entgingen ihr die Tränen, die über ihre Wangen rannen.
„Mel? Ist alles in Ordnung?“ Paddys Stimme drang nervös durch die geschlossene Tür.
Auch der laufende Wasserhahn hatte ihr leises Schluchzen nicht übertönen können.
Sie wollte etwas erwidern, doch kein Wort schaffte den Weg an dem Kloß in ihrem Hals vorbei. Schließlich öffnete Paddy vorsichtig die Tür, aber dann eilte auf sie zu, als er ihr Gesicht
sah.
„Hey! Mel! Was ist denn los? Ist was passiert? Hast du Schmerzen? Soll ich jemanden holen?“
Besorgt wollte er sie zu sich herumdrehen, aber sie hielt ihren Oberkörper nach vorne gerichtet, unbeweglich in den Spiegel starrend.
Sanft schüttelte er sie an der unverletzten Schulter.
„Ach, sieh doch nur, wie ich aussehe!“ schluchzte sie.
„Mel, ich weiß, wie du aussiehst!“
Liebevoll strich er ihr eine Strähne der langen Haare hinters Ohr, doch sie nahm auf einmal das, was von ihrer Frisur übrig geblieben war und versuchte wütend, ihre blanke Seite damit zu verdecken.
„Lass es doch!“ Er hielt ihre Hände fest und zog sie mit Nachdruck in seine Arme. „Du bist bist meine Mel! Und ich bin einfach glücklich, dass du lebst! Das mit den Haaren ist doch egal!“
„Und wenn wir sie abschneiden? Dann sind sie zumindest alle weg!“ Sie schniefte und drückte sich ein wenig von ihm weg. „Würdest du mir helfen? Kannst du das machen?“
Kurz presste er die Lippen aufeinander, bevor er nickte. Er zog ein Taschenmesser aus der Hose und öffnete die Schere, die sich daran befand.
„Du hast ein Taschenmesser?“ Erstaunt hob sie eine Augenbraue.
„Natürlich! Jeder richtige Mann hat ein Taschenmesser!“
„Aber seit wann bist du ein richtiger Mann?“ Sie schüttelte kurz den Kopf und musste trotz ihrer Tränen unwillkürlich auflachen. „Ich meine, seit wann hast du das Messer?“
Er wich ihrem Blick aus, während er sich einige ihrer lange Strähnen griff.
„Seit der Sache mit Frank.“ murmelte er.
„Da hilft dir so ein Schweizer Taschenmesser aber auch nicht weiter.“
„Das weiß man nie.“ Dann runzelte er die Stirn. „Das wird aber sicher kein Meisterwerk mit diesem Handwerksmaterial.“
Doch sie zuckte die Achseln.
„Ist mir egal, mach einfach. Irgendwann muss ich ohnehin zum Friseur, wenn das auf meinem Kopf richtig abgeheilt ist.“
Sie wischte sich die salzigen Tränen von der Wange, doch da begannen sie schon wieder zu fließen.
Er atmete noch einmal tief durch, dann landete Büschel um Büschel auf den Fliesen. Und mit den Haaren fiel auch der Rest ihrer Fassade.
„Liebst du Jenny?“
Eigentlich glaubte sie es nicht, aber die Frage spukte ihr nun schon seit einer Weile im Kopf herum. Dabei musste sie noch nicht einmal seine Antwort hören, denn sie wusste, was er sagen würde.
Nein, sie wollte seine Mimik und Gestik sehen, wenn er beteuern würde, dass dem nicht so wäre! Würde sie die Wahrheit darin erkennen können?
Sie beobachtete jede noch so winzigste Bewegung im Spiegel, doch diese war ziemlich eindeutig.
„Ob ich Jenny liebe?!“ Entsetzt suchte er Kontakt zu ihren Augen. „Das ist wahrscheinlich das Absurdeste, was ich je gehört habe!“
„Und wie ist die Antwort auf diese ach so absurde Frage?“ hakte Mel beharrlich nach.
„Natürlich nicht!“
Sie presste angespannt die Kiefer aufeinander. „Hast du sie einmal geliebt?“
„Liebe ist etwas Großes! Das entsteht nicht über Nacht! So lange lief das doch gar nicht mit ihr und mir. Mel, ich liebe dich! Darauf kommt es an! Jenny ist Geschichte!“
Doch sie schüttelte langsam den Kopf.
„Ich wünschte, sie wäre Geschichte! Aber sie ist präsent! Sie ist mit Adam zusammen! Sie ist nicht Geschichte!“ widersprach sie ihm traurig und betonte jedes einzelne Wort des letzten Satzes mit Nachdruck. „Ja, Liebe ist etwas Großes. Aber warst du in sie verliebt, also verknallt oder so?“
„Nein!“
Doch das überzeugt Mel noch lange nicht.
„Du hast mit ihr herumgemacht, ohne dass du mehr wolltest? Das sieht dir irgendwie nicht ähnlich, Paddy. Sei ehrlich zu mir!“
Er ließ die Schere sinken und seine Augen wanderten unruhig durch den Raum.
„Ja, vielleicht.“ gab er leise zu.
„Vielleicht hast du mit ihr einfach so herumgemacht? Oder...“ Sie zögerte kurz. „Oder vielleicht hast du etwas für sie empfunden?“
Es schien ihm unmöglich zu sein, dabei ihrem Blick standzuhalten.
„Vielleicht habe ich damals etwas für sie empfunden. Eine Schwärmerei. Mehr nicht! Aber dann kamst du und alles war anders! Wieso machst du dir so viele Gedanken? Wir haben doch darüber geredet!“
„Weil sie mich irre macht!“
„Aber wieso? Ich bin dein! Ganz amtlich!“ Er deutete auf seinen Ehering, so dass seine Hand via Spiegel in ihr Blickfeld rückte.
„Ja, aber guck dir doch an, wie sie aussieht! Und ich habe deinen Blick bemerkt, als du sie angesehen hast! Ich kenne diesen Ausdruck in deinen Augen! Und ich dagegen...“
„Du bist viel schöner als Jenny!“
Sie schaute in den Spiegel und schüttelte den Kopf.
„Bei aller Liebe. Das stimmt im Moment nicht! Und komm mit jetzt nicht mit `Wahre Schönheit kommt von innen!‘!“
„Okay, du bist vielleicht gerade nicht in Bestform und trotzdem ist es schwer, dir die Männer vom Laib zu halten. Immerhin lag Angelo schon auf dir drauf!“
Sie zog die Augenbrauen hoch.
„Aber das war ein Unfall.“
„Ja, Gott sei Dank!“ schnaubte er nur halbwegs spaßig gemeint.
Inzwischen war die letzte Strähne ihrer Mähne zu Boden geglitten. Die Stoppeln waren wie erwartet sehr unregelmäßig, aber darauf kam es nun wirklich nicht mehr an.
Prüfend wühlte Paddy durch ihre neue Frisur.
„Ist eigentlich ganz süß!“ stellte er fest.
„Na, ich weiß nicht.“
Aber er nickte widersprechend.
„Doch, ich aber! Du bist die schönste Frau für mich und es ist egal, ob du gerade einen Unfall hattest oder frisch gestylt zum Altar schreitest! Ich will dich! Nur dich!“
Fest schloss er sie in seine Arme ein und trotz seiner alkoholgeschwängerten Aura genoss sie seinen Körpergeruch.
„Warum spüre ich es denn nicht? Ich sollte im Inneren fühlen, dass ich dir vertrauen kann! Stattdessen hab ich dauernd Bilder im Kopf, wie du mit Jenny oder Tirza abziehst, während ich hier im Krankenhaus halb ans Bett gefesselt bin.“
Er würde ihr gerne schwören, dass so etwas nie passieren würde! Dass er nicht wie Angelo sei!
Doch unwillkürlich musste er an die Szene auf dem Weihnachtsmarkt denken. Damals, als er Jenny um ein Haar geküsst hätte. Verdammt, so wenig er sie auch mochte, aber Jenny war scharf! Das konnte kein Mann verleugnen und sie wusste auch noch, mit ihren Reizen umzugehen. Was jedoch nicht zwangsweise bedeutete, dass er scharf auf Jenny war!
Sie hatte in seinem Gesicht lesen können, dass er in Gedanken weit weg war.
„Woran denkst du?“
Er klappte den Mund zu, bevor er ihn wieder öffnete.
„Egal, wie Jenny aussieht, sie ist nicht du! Ich habe schließlich nicht Jenny geheiratet sondern dich, weil ich dich liebe! Ich will dich und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr!“
Er würde ihr auch gerne sagen, dass er nicht verstehen könne, wo dieser Zweifel auf einmal wieder herkam, doch er kannte die Antwort. Es war immerhin Jennys Tagebuch, das diese Katastrophe ausgelöst hatte! Oder war es eigentlich sein damaliges Verhalten gewesen, das er dafür verantwortlich machen musste? Jenny hatte es nur aufgeschrieben, aber es war sein Handeln gewesen! Fast hätte er sie dadurch für immer verloren!
Schützend zog er sie noch fester an sich.
Mel war seiner Mimik gefolgt und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
„Ich wünschte, du könntest mir mal wieder zeigen, wie sehr du mich willst.“ flüsterte sie, drehte sich um und krallte ihre Fäuste in sein T-Shirt, bevor sie ihre Nase darin vergrub. Mit einem kräftigen Zug sog sie seinen sinnlichen Duft ein. Wie vermisste sie es, jeden Abend neben ihm einzuschlafen! Manchmal hatte er sie nachts geweckt, weil er Unfug vorhatte. Dann war sie von den Küssen aufgewacht, mit denen er ihren Körper bedeckte. Sie konnte sich gar nicht entsinnen, wann sie zuletzt…
Langsam ließ sie ihre Hand zu seiner Hose hinunterwandern, wo sie flink den Knopf öffnete und ihre Hand hineingleiten ließ. Sie spürte, dass er seinen Kopf noch fester an ihren drückte und auch sein Arm umschloss sie noch enger.
„Was tust du da?“ Er schnaufte und stützte sich mit der freien Hand an der kalten Wand ab.
„Ernstgemeinte Frage?“ Sie biss sich frech auf die Zunge. Ihre Hand befand sich nach wie vor in seiner Hose, wo sie sich in rhythmischen Bewegungen hoch und runter bewegte.
Ein leises Stöhnen entwischte ihm.
„Wenn ich im Ganzen schon nicht einsatzfähig bin, dann könnte ich ja wenigstens dir etwas Gutes tun.“
Sie leckte sich leicht über die Unterlippe, während ihr Blick nach unten ging, dorthin, wo sich bereits eine deutliche Ausbuchtung in seiner Shorts abzeichnete.
„Wie soll denn das funktionieren?“ Seine Augen waren nun wieder geöffnet und sahen sie skeptisch an.
Doch sie ließ sich nicht entmutigen.
„Na komm, wir gehen zum Bett.“ Sie nickte in dessen Richtung und wollte gerade loshumpeln, als sie hörte, wie die Zimmertür aufging.
Panisch riss Mel die Augen auf, ließ Paddy los, der eilig seine Hose zuknöpfte, und holperte ins Zimmer zurück.
Dort stand eine bisher unbekannte Nachtschwester, die sie unwirsch musterte.
„Ich war nur kurz zur Toilette.“ murmelte Mel entschuldigend.
Sie löschte hinter sich das Licht und schloss die Badtür, dann bewältigte sie unter Argusaugen den Weg zum Bett zurück.
„Wo ist denn die zweite Gehhilfe?“ fragte sie streng.
„Hab ich vergessen.“ behauptete Mel kleinlaut, doch sofort bereute sie ihre Lüge, als die Schwester mit großen Schritten aufs Bad zuschritt.
„Nein, das war unten im Foyer! Nicht hier im Bad!“ ergänzte sie hastig und konnte sie gerade noch davon abhalten, die Klinke hinunterzudrücken, auf die sie bereits ihre Hand gelegt hatte.
„Ach so.“
„Ja!“ Mel nickte eifrig. „Die ist dann wahrscheinlich von jemandem mitgenommen worden. Ja, blöd gelaufen. Selbst Schuld! Pech gehabt.“
Untermalend hob sie die Arme, hielt jedoch in der einen Hand nach wie vor ihre verbliebene Gehhilfe, mit der sie nun die Selterflasche von Nachttisch fegte.
„Scheiße! Tut mir leid!“ Verlegen versuchte sie, sich hinunterzubeugen, war sich aber völlig darüber im Klaren, dass sie keineswegs den Boden erreichen konnte, um die Scherben aufzuheben.
„Lassen Sie das! Nehmen Sie die Füße aufs Bett! Ich hole Handfeger und Schaufel und einen Lappen.“
Mit zielgerichteten Schritten lief sie von dannen.
Mel zog die Beine nach oben und steckte sie unter die Decke.
Keine zwei Minuten später war die Schwester wieder da und machte sich sofort daran, alle auf dem Boden befindlichen Gefahren zu beseitigen.
„Wissen Sie, das war keine Absicht, das kann doch mal passieren! Ok, ich hätte Licht anmachen können, aber man kennt sich ja aus, ne? Tut mir wirklich leid.“ beteuerte Mel erneut, doch die Schwester zog skeptisch die Stirn in Falten.
„Ja? Bevor ich ins Frei ging, waren Sie noch nicht hier. Aber schön, dass Sie sich hier bereits wie zu Hause fühlen.“
Sie verdrehte die Augen und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Unzufrieden ließ Mel sich aufs Bett fallen.
Was hatte sie bloß für einen Unsinn geredet?
Doch dann zuckte sie die Achseln.
Immerhin waren sie nicht erwischt worden!
Paddy!
Sie setzte sich wieder auf und versuchte, möglichst schnell zurück zum Bad zu kommen, wo sie sofort das Licht anschaltete.
„Du kannst rauskommen. Sie ist weg.“
Lächelnd beobachtete sie, wie er hinter dem Duschvorhang hervorkam.
Sie streckte ihm die Hand entgegen.
„Los, gehen wir ins Bett. Die kommt bestimmt so schnell nicht wieder. Das müsste ihre letzte Runde gewesen sein, in zwei Stunden beginnt der Frühdienst.“
Sie kletterte umständlich ins Bett, dann hielt sie einladend die Decke hoch, mit der sie sich zugedeckt hatte. Inzwischen schaffte sie es bereits wieder, auf der Seite zu schlafen.
Vermutlich war es seinem Restalkohol geschuldet, dass Paddy sich tatsächlich seiner Sachen bis auf Shorts und Shirt entledigte und sich an ihren Rücken kuschelte.
Dort, wo sonst ihre langen Haare den Nacken verborgen hatten, kitzelte ihn nun kurzer, weicher Flaum an der Nase. Es war ungewohnt, aber schön. Doch gleich daneben ragten einige dünne Schläuche aus ihrem Hals, über die sie nach wie vor tagsüber Infusionen bekam. Er wandte seinen Blick ab und versuchte ebenfalls, den allgegenwärtigen Geruch von Desinfektionsmitteln auszublenden. Er fand schnell Ablenkung.
„Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, dass dein Hemd hinten offen ist?“
Er kicherte leise, während er langsam mit einem Finger die Haut, die durch den Spalt freigelegt wurde, hinunterfuhr.
„Ja, ich weiß.“ grummelte sie, aber es reichte nicht einmal mehr, um beschämt zu sein. Zu lange trug sie diese ollen Hemden schon.
„Wie praktisch.“ Sie konnte nicht sehen, wie er mit den Augenbrauen wackelte, was sie jedoch merkte, war seine Hand, die zärtlich über ihre Hüfte streichelte.
Sofort sammelte sich das Blut in ihrem Unterleib und instinktiv drückte sie sich gegen ihn und spürte, dass er ihr auch schon entgegenkam.
„Mel, wach auf!“ Er ruckelte an ihrer Schulter, bis sie endlich ein grummeliges Stöhnen von sich gab.
„He! Du hast nur schlecht geträumt!“
Erst allmählich realisierte sie, wo sie war und mit wem.
Verwirrt setzte sie sich auf.
„Was machst du hier in meinem Bett?!“ fragte sie irritiert, doch dann tauchten nach und nach die Bilder der letzten Nacht wieder auf. Langsam hob sie die Hand, um sich an die Haare zu fassen. Sie schluckte kurz, doch dann musste sie lächeln. Ihr Kopf schnellte zu ihm herum.
„Hihi, wir haben...“ deutete sie schelmisch grinsend an und er nickte.
„Ja, haben wir!“ stimmte er freudig zu, dann verdüsterte sich seine Miene.
„Aber wovon hast du geträumt? Du hast gewimmert und gezappelt und wenn ich dich anfassen wollte, hast du mich weggestoßen!“
Sie versuchte, sich zu erinnern, bekam aber keinen konkreten Gedanken mehr zu fassen.
„Ich weiß es absolut nicht mehr. Aber es hatte nichts mit heute Nacht zu tun. Davon hätte ich mit Sicherheit keine Alpträume bekommen!“ Da trat wieder diese kecke Ausdruck in ihre Augen. „Daran kann ich mich nämlich ziemlich gut erinnern!“ Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf den Mund. „Das hat gut getan. Danke.“
Statt zu antworten, zog er sie an sich, so dass sie ihren Kopf auf seine Brust legte, aber kaum hatte sich ihre Atmung angeglichen, klopfte es energisch an der Tür, welche im Prinzip zeitgleich aufflog.
Routiniert stürzte eine Schwester herein, stockte aber sofort, als sie die beiden schmusend im Bett erwischte.
„Was ist denn hier los? So sehr sollen sie sich hier auch nicht zu Hause fühlen! Das geht so nicht! Raus aus dem Bett! Alle, die kein Krankenhaushemd tragen!“
Mel blickte vorsichtig unter der Decke an sich herunter.
„Ähm, neee.“ erwiderte sie zögerlich und festigte ihren Griff am Rand der Decke. „Das kommt jetzt irgendwie nicht so gut.“
„Ich bin in fünf Minuten wieder hier und dann will ich, dass alle Anwesenden der Kleiderordnung entsprechend angezogen sind!“ Sie prägte sich noch einmal die Szene ein, bevor sie sich schwungvoll umdrehte und mit einem leisen Knall die Tür hinter sich schloss.
„Oh Gott! Das hätte nicht passieren dürfen!“
Paddy sprang aus dem Bett, aber Mel konnte partout nicht aufhören zu lachen.
„Ihr Gesicht war unbezahlbar!“
Sie setzte sich auf und beobachtete Paddy beim Anziehen. Sobald er fertig war, half er ihr in das Krankenhaushemd, als auch schon wieder die Tür aufging.
„Das waren nie und nimmer fünf Minuten!“ beschwerte Mel sich und wurde dabei akribisch gemustert.
„Das war ja offensichtlich auch nicht nötig.“ stellte die Schwester mit kühler Stimme fest. Kaum verklang der letzte Ton ihrer Worte, machte sie auf dem Absatz kehrt und war wieder weg.
Mel atmete tief durch. „Puh, Anstandsdame zufrieden gestellt.“
Aber Paddys Miene war nach wie vor angespannt.
„Mensch, wenn das an die Presse geht!“
„Ach Quatsch! Die hat doch Schweigepflicht!“ versuchte Mel, ihn zu beruhigen, hatte aber nicht so rechten Erfolg.
„Meinst du wirklich? Das ist doch nichts Medizinisches!“
„Die wird trotzdem den Teufel tun und zur Presse rennen!“
Er schien ein wenig besänftigt, als er nach seinem Handy griff.
„Ich muss trotzdem jetzt los. Es ist kurz nach sieben. Außerdem bringt mein Kopf mich um! Aber es war sehr schön bei dir.“ Er zwinkerte. „Ich danke dir für deine Gastfreundschaft.“
„Gern geschehen! Ich danke dir, dass du mich mit deiner Anwesenheit beglückt hast.“ Sie schmunzelte vielsagend.
„Beglückt?“
„Ja, beglückt.“ Sie gluckste vergnügt und gab ihm einen Kuss zum Abschied. „Und ich werde mich jetzt noch eine Stunde aufs Ohr hauen.“ verkündete sie zufrieden und drückte ihren Kopf tief in das Kissen.
„Da muss ich wohl einen Strich durch die Rechnung machen!“ rief eine junge Schwester munter, als sie das Zimmer betrat. „Ich bin Schwester Melanie. Ich soll jetzt Blutdruck und Temperatur messen. Aber keine Sorge, danach gibt es zumindest etwas zu essen und ein bisschen Bewegung.“
„Juhu.“ jubelte Mel schwunglos, doch Paddy griff nach ihrer Hand. „Also Bewegung...“ Er bremste sich selbst und beendete seinen Satz anders, als ursprünglich geplant.“...tut dir bestimmt ganz gut. Und hinterher wirst du brav etwas essen! Ich frage nachher die Schwester!“ Er warf selbiger einen verschwörerischen Blick zu und auch ihre Augen trafen nun auf ihn. Ihr fiel die Kinnlade herunter.
„Bist du, ähm, ich meine Sie, sind Sie nicht Paddy Kelly?“
Unbemerkt war ihr das Stethoskop heruntergefallen, welches Paddy nun aufhob und ihr reichte.
„Ja!“
Dabei schenkte er ihr das strahlendste Lächeln, das er aufbringen konnte, und raubte ihr damit den letzten Atem.
Beschwingt schritt er zur Tür, wo er lässig den Arm hob. „Ich wünsche den Damen einen wunderbaren Tag!“
Es war ja zumindest schon mal ein verdammt guter Anfang gewesen, trotz seiner Kopfschmerzen.
Dann ging er.
Nur langsam fand Melanie ihre Sprache wieder. Ihre Augen leuchteten, ihre Zunge stotterte.
„Was macht denn Paddy Kelly hier?!“ Sie öffnete die Blutdruckmanschette und näherte sich Mel nach wie vor ungläubig über das, was sie gerade erlebt zu haben schien.
Mel hielt ihr bereitwillig den Arm entgegen.
„Er wollte mich besuchen. Wir sind verheiratet.“ erklärte Mel sachlich, aber glücklich lächelnd und brachte die Schwester damit so durcheinander, dass sie die Manschette erneut aufpumpen musste.
„115/70. Alles prima. Dann brauche ich jetzt noch einmal das Handgelenk, um den Puls zu messen.“ Auch das klappte nicht auf Anhieb. Sie war einfach nicht bei der Sache.
Mel schmunzelte nachsichtig, immerhin konnte sie es verstehen. Es gab immer noch Momente, in denen er ihr den Verstand stahl. Heute Nacht zum Beispiel.
Ihre Mundwinkel schoben sich noch weiter nach oben.
„Alles in Ordnung? Ihr Puls wird auf einmal schneller!“
Mel lachte leise. „Ja, alles in bester Ordnung!“
Auch wenn sie jetzt nicht weiterschlafen konnte, war es einfach eine traumhafte Nacht gewesen. Zumindest unter diesen Umständen. Und sie würde wahrscheinlich den Rest des Tages noch davon profitieren können!
Das Geräusch der sich öffnenden Tür riss sie aus ihrer Träumerei.
Ein Tablett mit Frühstück wurde hereingetragen. Von Angelo.
Entgeistert starrte sie ihn an.
„Was machst du denn jetzt hier? Und wieso bringst du dein Essen mit?“
„Ich sorge dafür, dass du nicht verhungerst! Das ist nämlich nicht mein sondern dein Essen! Das war draußen in so einem offenen Wagen. Ich hab schon gegessen. War Paddy heute schon hier?“
Er stellte das Tablett auf ihrem Nachtschrank ab und setzte sich auf die Bettkante. Genüsslich steckte er sich eine Tomate in den Mund, sobald er seinen Satz beendet hatte. Außerdem hoffte er insgeheim auch, dass sich vielleicht eine Gelegenheit bieten würde, mit ihr zu reden.
„Ist irgendwas?“ Er schaute zwischen den beiden jungen Frauen hin und her.
„Nein.“ antwortete Schwester Melanie mechanisch, nahm ihre Gerätschaften und verließ geistesabwesend den Raum.
„Was war denn mit der los?“ Er runzelte die Stirn, schien dies aber als rhetorische Frage gemeint zu haben. „Also? Ist Paddy heute schon gekommen?“ Er schnappte sich noch die Gurkenscheibe von Mels Teller.
„Ja. Irgendwie schon.“
„Wie meinst du das?“
„Na, er ist schon wieder weg.“ Sie grinste erneut und griff nach der Kaffeetasse.
„Das sehe ich. Deshalb hab ich ja auch nicht gefragt, ob er hier ist sondern hier war.“ erwiderte Angelo altklug und angelte sich ihren Fruchtzwerg vom Tisch. „Isst du den noch?“ Schon versenkte er den ersten Löffel in seinem Mund.
„Nein, danke. Nimm ruhig.“ Sie streckte ihm lachend die Zunge heraus, bevor sie zu quieken begann.
„Ieh, Angelo, was hast du gemacht?! Da ist ja Milch drin und sogar Zucker! Das ist total widerlich!“
Angeekelt hielt sie den Kaffeebecher auf Abstand. „Pfui, das riecht ja schon so komisch!“
„Sorry, dann trinke ich den halt.“ Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und begann unverzüglich zu schlürfen.
Mel lehnte sich in ihrem Bett zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Apropos was hast du gemacht….was hast du gemacht?!“
„Wieso? Was meinst du?“
Ihrem Blick ausweichend griff er nach der trockenen Scheibe Graubrot und zupfte nervös an deren Innenleben herum. Er wusste genau, worauf sie hinaus wollte. Sie wusste, dass er es wusste und blieb ihm eine Antwort schuldig.
Stattdessen steckte er sich noch ein Stückchen trockenes Brot zwischen die Zähne.
Und verschluckte sich fürchterlich.
Prustend verteilte er den Inhalt seines Mundes über Mels Bettzeug, bevor er es schaffte, sich wegzudrehen. Mel hielt abwehrend die Hände vor sich.
„Mann, Angelo, jetzt wechsle nicht das Thema! Und außerdem machst du das hier gleich wieder weg!“ schimpfte sie und gab ihre fordernde Haltung keinen Millimeter auf.
Ihr Schwager versuchte atemlos, etwas zu erwidern, doch aus seiner Kehle kam nur ein heiseres Röcheln. Zitternd setzte er sich auf die Bettkante, während er an der Kante des Fußendes Halt suchte.
„Ich finde, das ist wirklich das Letzte, sie so zu behandeln! Das hat sie nicht verdient! Wie konnte das überhaupt passieren? Mit Kira konnte ich nicht reden, weil die anderen dabei waren. Dann solltest wenigstens du mir jetzt Rede und Antwort stehen!“ keifte Mel ungerührt weiter.
Sein Gesicht hatte inzwischen eine tiefrote Farbe angenommen, noch immer rang er um Atem, was auch sie allmählich dazu brachte zu verstummen. Sie entschied sich gerade, doch besser die Schwesternklingel zu drücken, da erbrach er sich auch schon schwallartig auf den Zimmerboden.
„Pfui, Angie, langsam reicht es, dass du mir immer wieder dein Halbverdautes zeigen musst! Und dabei soll einer Appetit auf Frühstück bekommen!“
Bevor Melanie wenige Minuten später hereinkam, hatte sie kurz vor der Tür gestanden und sich die Sätze genau zurechtgelegt, schließlich drückte sie die Klinke herunter und trat ein.
„Hallo, ich bin Melanie. Ich bin ein riesiger Kellyfan! Was kann für Sie tun?“
Das breite Strahlen war aus ihrem Gesicht gefallen. Das war nicht ganz das gewesen, was sie vorbereitet hatte.
„Er hat hier mitten auf den Boden gekotzt!“ rief Mel angewidert. „Siehst du, ich habe gesagt, gepanschter Kaffee ist nicht gut!“
Die Schwester wandte ihren Blick von Angelo ab, der japsend wieder ein wenig Sauerstoff inhalieren konnte, prüfte kurz das Malheur und trat nun auf ihn zu.
„Geht´s wieder?“ Er schüttelte den Kopf und hielt sich die Hand vor den Mund.
Schwester Melanie öffnete rasch eine Schranktür, hinter der einige pflegerische Utensilien gelagert wurden. Dort fand sie auch eine Spucktüte, die sie ihm gerade noch rechtzeitig in die freie Hand drückte.
Mel rümpfte demonstrativ erneut die Nase.
Melanie bemerkte es, während sie sich ein Paar Handschuhe überstreifte.
„Na, Krankenschwester wäre wohl kein Job für Sie, richtig?“
„Wieso? Ich bin doch total einfühlsam!“
Ein unverständliches Röcheln drang aus der Spucktüte zu ihnen herüber.
Die Schwester lächelte Mel kurz freundlich an, dann ging sie, damit die Sauerei bald bereinigt sein würde.
Angelo hatte sich inzwischen erhoben und einige Meter weiter auf einen Stuhl geschleppt, wo er nun seinen Kopf auf der kühlen Oberfläche des dazugehörigen Tisches drapierte.
„Mir ist schlecht und schwindelig.“ jammerte er und umklammerte unter dem Tisch seine benutzte Spucktüte. Mel hoffte inständig, dass er sie nicht fallen lassen würde!
„Gepanschter Kaffee!“ wiederholte sie inbrünstig. „Und was ist jetzt mit dir und Kira?“
„Oh Mel, geh mir jetzt nicht auf den Keks! Mir geht es gerade nicht gut!“
„Ich geh dir mit Kira so lange auf den Keks, bis du einsiehst, was für einen Mist du gebaut hast und das wieder in Ordnung bringst! Und zwar auf vernünftige Art und Weise und nicht mit so einem Kindertheater!“
Eigentlich hatte er den Kaffeekommentar gemeint. Oder doch das Gerede von Kira? Ach, Hauptsache, sie würde endlich aufhören zu quatschen! Eigentlich hatte er ihr doch etwas sagen wollen! Aber nach dieser Aktion?
Er ließ seinen Blick über seine Hinterlassenschaften wandern.
Aber wer weiß, wann er wieder die Gelegenheit dazu bekommen würde?! Also fasste er sich ein Herz.
Er atmete tief durch und richtete sich am Tisch, so gut es ging, auf.
„Mel, du musst wissen, dass...“ Doch da wurde er jäh von Melanie unterbrochen, die mit einem Rollstuhl in der Tür erschienen war.
„Angelo, darf ich Sie begleiten? Sie sehen aus, als wenn Sie dringend in die Horizontale gehören!“ Ihre Augen wurden groß. „Also, ich meine, ich möchte Sie schnell flachlegen.“ Sie schüttelte wütend den Kopf. „Aufs Zimmer bringen, damit sie sich hinlegen können, verdammt!“ Schweiß trat auf ihre Stirn. „Okay, könnten Sie sich vielleicht einfach in diesen Rollstuhl setzen und wir tun alle so, als ob das alles hier nie passiert sei?“ Sie blickte hoffnungsvoll in die Runde und Angelo nickte begeistert.
„Das ist eine sehr gute Idee!“
Sie parkte vor ihm und half ihm, sich umzusetzen. Sein Kreislauf machte ihm im Moment tatsächlich sehr zu schaffen. Es wurde wirklich dringend Zeit, dass er ins Bett kam. Ohne Melanie. Aber er war dankbar für die Hilfe, die er auf dem Weg dorthin von ihr bekam. Das Gespräch mit Mel musste er wohl oder übel ein anderes Mal fortsetzen.
Es war zu befürchten gewesen, dass im Schloss bereits Leben erwacht sein würde. Also gesellte er sich zu Patricia in die Küche, wo er sie mit einem trägen Hallo begrüßte.
„Wo kommst du denn her? War das gerade die Haustür?“
„Das war sie.“
„Warst du Brötchen holen?“ Doch ihr suchender Blick bescherte ihr bereits die Antwort.
„Ich war bei Mel im Krankenhaus. Ich habe da geschlafen. Frag nicht. Bei ihr ist auf jeden Fall alles gut, keine Sorge.“
„Dann bin ich ja beruhigt. Ich wollte gerade fragen! Hattet ihr so sehr Sehnsucht nacheinander? Das kann ich gut verstehen.“ Sie nickte mitfühlend, während sie sich einen Kaffee einschenkte.
„Du auch einen?“ Sie hielt die Kanne fragend hoch, doch er schüttelte dankend den Kopf.
„Wann sollen wir denn im Studio sein?“
Patricia schluckte den Kaffee in ihrem Mund herunter, bevor sie antwortete.
„Mmh, die Aufnahmen für heute sind verschoben worden. Wir wollten doch was von Joey aufzeichnen, aber er sagt, er sei noch nicht so weit. Er wäre noch nicht zufrieden.“ Sie verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und zog die Augenbrauen hoch. „Und wenn schon Joey sagt, dass er nicht zufrieden ist, dann sollten wir ihm lieber noch ein bisschen Zeit geben. Du hast also heute frei.“
Paddy starrte sie entgeistert an.
„Ist nicht dein Ernst?!“
„Bist du jetzt etwa sauer? Weil wir das ohne dich entschieden haben, oder wie?“ Sie stellte ihre Tasse ab und wartete auf seine Reaktion.
Er lächelte, zwar müde, aber er lächelte.
„Nein, selig! Ich geh ins Bett. Bis später.“
Sie schmunzelte.
„Na, dann brauche ich, wohl gar nicht zu fragen, wie deine Nacht war.“
„Brauchst du nicht. Aber weißt du zufällig, wo die Kopfschmerztabletten sind?“ Seine Bedürftigkeit unterstrich er durch eine ausladende Handbewegung Richtung Kopf.
„Solltest du das nicht allmählich wissen?“
„Im Medizinschrank sind keine mehr.“
„Ich habe noch welche in meinem Zimmer. Ich bring dir gleich eine.“
Er bedankte sich und begab sich die Treppe hinauf, auf der er Jimmy traf.
„Da bist du ja! Wo warst du? Ich war gerade in deinem Zimmer und du warst nicht da! Und dein Bett sah genauso aus, wie ich es gestern verlassen habe!“
„Jimmy, der letzte Satz klingt irgendwie ziemlich bescheuert aus deinem Mund.“
„Lenk nicht ab! Wo bist du nun heute Nacht gewesen? War wieder etwas mit Mel?“ Besorgt hatte er seinen Bruder am Arm festgehalten, der sich nun aber genervt aus dessen Griff wand.
„Nein, Jimmy. Alles in Ordnung mit Mel.“ Er setzte seinen Weg fort. „Wieso muss eigentlich jeder in dieser Familie so neugierig sein?! Gute Nacht, Bro.“
Endlich schloss er seine Zimmertür hinter sich. Die Ruhe entlockte ihm ein erleichtertes Seufzen, dann warf er seine Schuhe und alle überflüssigen Klamotten in die Ecke und verkroch sich unter der Decke. Binnen Sekunden war er eingeschlafen.
Doch nur um binnen Minuten wieder geweckt zu werden.
Nur langsam realisierte er, dass es Maite war, die mit hocherhobenen Armen wild gestikulierend auf ihn einredete.
„Da bist du ja endlich! Hast du auf dem Hof gepennt? Wir müssen noch mal über gestern reden!“
Er war sich unschlüssig, ob er die Decke über den Kopf ziehen oder nach unten schieben sollte. Er entschied sich für letzteres.
„Was willst du, Maite?“ Stöhnend wischte er sich mit beiden Händen müde übers Gesicht.
„Na, über gestern Abend reden. Also eigentlich über mich, Sam und Berlin!“ Verständnislos schaute sie auf ihn herab und fuhr dann mit einer Stimmlage fort, die besagte, dass das Folgende doch für jeden absolut offensichtlich sein sollte. „Wir mussten doch mittendrin aufhören, weil du so besoffen warst!“
Paddy wollte gerade etwas erwidern, als ihm jemand zuvorkam.
„Was soll das heißen: Du, Sam und Berlin? Maite, was bedeutet das?“
Barby stand in der offenen Tür und sah mit großen Augen von einem zum anderen.
Unglücklich verzog Maite das Gesicht.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihrer Schwester das erklären sollte, ohne dass diese in Tränen ausbrechen würde. Händeringend suchte sie nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht.
„Willst du weggehen?“ Barbys Stimme war schwach; sie zitterte fast ein bisschen.
„Hey Paddy, kannst du mal mit diesem Song hier helfen?“ Joey kam hereingestürmt, einen Collegeblock vor der Nase, seine Gitarre in der anderen Hand und einen Bleistift zwischen den Zähnen, weshalb er zwar schlecht zu verstehen war, die anderen jedoch in der Lautstärke noch um Längen überbot. Natürlich übersah er seine Schwestern und prallte nun ungebremst auf beide.
„Was steht ihr denn hier rum?“ schimpfte er, ging aber mit seinem unvollendeten Werk direkt weiter zu Paddy.
Der wiederum hatte einen spontanen Entschluss gefasst.
„Das ist doch hier wie auf´m Bahnhof! Da hat man im Krankenhaus ja mehr Ruhe! Ich hau wieder ab!“
Er klaubte seine Sachen aus der Ecke und schlüpfte hinein.
„Wie willst du denn da hinkommen? Fahren darfst du bestimmt noch nicht, so wie es hier riecht.“ Maite rümpfte übertrieben die Nase, doch er winkte ab.
„Ich nehm´ ein Taxi.“
„Paddy, hier ist die Kopfschmerztablette, die du haben wolltest.“ Patricia stand nun auch noch mit im Raum und hielt ihm einen Blister entgegen, nachdem er sofort schnappte und in die Hosentasche steckte. „Danke.“
„Du kannst mit mir kommen! Ich will ohnehin gleich in die Stadt.“ rief Jimmy, während er an der offenen Tür vorbeiging.
„Super Sache, Jimbo!“ Er nahm seine Jacke und ließ seine Geschwister in seinem Zimmer zurück.
„Wo ist meine Frau?“ Paddy stand vor dem Schwesternzimmer, nachdem er Mels Zimmer leer vorgefunden hatte.
„Ich glaube, die wollte zu ihrem Schwager nach oben.“ erklärte eine der Schwestern und er bedankte sich.
Was wollte sie denn bei Angelo?
Er tat es nicht bewusst und trotzdem beschleunigten sich seine Schritte. So dauerte es auch nicht lange, bis er das Zimmer seines Bruders erreicht hatte.
Unzählige Bilder erschienen vor seinen Augen, bevor er die Klinke herunterdrückte.
Alles, was er zu sehen bekam, war Angelo, der blass im Bett lag und Mel, die auf einem Stuhl daneben Platz genommen hatte.
„Sag ihm bitte nichts!“ sagte Angelo leise, dann bemerkten sie ihn.
Sollte er es zu einem Eklat kommen lassen? Hier im Krankenhaus?
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er atmete ein, er atmete aus.
„Hallo, ihr beiden.“ Mühsam zwang er sich ein Lächeln ins Gesicht und trat näher.
„Na, wie geht es unseren Invaliden?“
„Geht so.“ murmelte Angelo und Paddy wusste, dass es einem „ziemlich beschissen“ sehr nahe kam.
„Du hast in den letzten Tagen auch schon mal besser ausgesehen.“ stellte er nüchtern fest.
Das Einfühlungsvermögen gegenüber seinem Bruder war bei ihm offenbar ebenso zu kurz gekommen wie bei seiner Frau. Dann fiel sein Blick auf selbige. Ihre Augen leuchteten noch wie vor wenigen Stunden. Es war ansteckend. Liebevoll strich er über ihre Wange und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Mir geht es ganz famos!“ gab sie zur Antwort und nichts an ihrem Gesicht strafte sie Lügen. „Mir könnte es nur noch besser gehen, wenn ich hier raus wäre! Ich habe so langsam die Nase voll! Ich habe das Gefühl seit Jahren hier drin zu sein.“
„Das Gefühl habe ich auch.“ stimmte Angelo ihr resigniert zu. „Es wird dringend Zeit, dass wir hier wieder rauskommen!“
Paddy nickte, konnte sich aber ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen.
„Ich denke, das sehen wir alle so! Allerdings befürchte ich, das wird noch ein Weilchen dauern.“
Er sollte Recht behalten.
Angelo hatte im Vergleich zu Mel mehr Glück. Er durfte bereits drei Tage später wieder nach Hause. Inzwischen war er absolut fieberfrei und auch sonst bestand keine Notwenigkeit, ihn länger dort zu behalten.
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Stranger (Mittwoch, 28 Juni 2017 11:30)
Ich bin soooo ungeduldig :-) Wann geht es endlich weiter? Ich möchte doch so gerne wissen wie Kira reagieren wird. :-)
Bitte bitte bitte bitte gib uns schnell ein Update :)
Pw (Mittwoch, 28 Juni 2017 13:31)
Schnucki, ich danke dir. :-*
Andrea (Donnerstag, 20 Juli 2017 16:37)
Eine Freundin hat mich darauf hingewiesen, dass es endlich weiter geht!! Jippieh! Hätte nicht mehr daran geglaubt.
Irgendwie habe ich die Mails nicht bekomme, obwohl ich die Updates abonniert habe.
Muss man sich da neu eintragen?
Gleich mal lesen!!
Pw (Donnerstag, 20 Juli 2017 17:03)
Hallo Andrea, man spricht über Egon? Hihi, das freut mich! *jubel* Ich hab ja die Homepage lange nicht mehr aktualisiert und wie es aussieht, kann ich keine Rundmails mehr verschicken. :( Dafür müsste ich eine kostenpflichtige Option dazubuchen.
Ich wollte euch so gerne Bescheid sagen, dass es weitergeht, ind er Hoffnung, dass sich irgendwer noch dafür interessiert, aber es ging nicht mehr. :(
Ich freue mich, dass du mir einen Kommentar hinterlassen hast und wünsche dir viel SPaß beim Lesen!
Lg Pw
Anke (Montag, 22 Februar 2021 16:55)
Es ist weiterhin wie ein Sucht diese Geschichte zu lesen. Ich werde jetzt noch öfter immermal wieder reinschauen ob es ein Update gibt:)
Aber noch hab ich was zu lesen also weiter geht es
Nicky (Mittwoch, 01 September 2021 02:02)
Ja da stimme ich dir voll zu Anke � … es wird nie langweilig mit dieser Geschichte … ich liebe sie nach wie vor und ich finde es immer wieder mega, wie du PW, den Humor so schön mit einarbeitest � ich könnte mich immer wieder wegschmeißen vor lachen …
Ich finde Angelos Verhalten nicht toll … er hat für mich in dieser Geschichte keine Frau verdient … erst bescheisst er Kira … dann kämpft er für sie und landet dabei sogar im KH … das wäre ja alles so auch toll aber das er immer noch an Mel festhält und sogar mit dem Gedanken spielt ihr es zu sagen find ich scheisse … denn soll er auch nicht um Kira kämpfen wenn er doch eine andere liebt … �
Paddy sein Verhalten finde ich dafür umso toller � die Story das er Nachts noch ins KH gefahren ist fand ich mega schön ☺️
So nun gehts weiter mit den letzten 4 Kapiteln � …