92. Kapitel Hauchdünn


92.Kapitel  Hauchdünn

 

 

 

 

„Vielleicht ruft Tina ja noch zurück.“ Paddys knurrender Magen brachte ihn jedoch abrupt auf andere Gedanken. „So, Frühstück?“ 

Seine Augen lagen prüfend auf Mel, die ihrerseits versuchte, ein möglichst ungezwungenes Gesicht zu machen. 

„Klar. Ich hab einen Mordshunger!“ Betont munter sprang sie auf, geflissentlich seinem Blick ausweichend. Doch ihr Magen knurrte nicht, eher im Gegenteil. Spuren des Alkohols der vergangenen Nacht schienen es sich dort gemütlich gemacht zu haben und waren sich noch nicht sicher, in welcher Richtung sie die Örtlichkeiten verlassen wollten. „Lass uns mal sehen, ob wir ein Katerfrühstück finden. 

In der Küche angekommen, saßen dort noch mehr Katerfreunde und hielten sich hilfesuchend an ihren Kaffeebechern fest. 

„Guten Morgen!“, rief Paddy fröhlich in die Runde, was größtenteils eher grunzend beantwortet wurde. Nur Jimmy vergrub seinen Kopf noch mehr zwischen den Händen. „Pssst, nicht so laut.“ Dann folgte ein undefinierter Laut, der Schmerz und selbstverschuldetes Elend in sich trug. 

„Hier kommt genau das Richtige! Danach wird es euch gleich besser gehen!“ Johns Maite stand wie der junge Morgen am Herd und lud zwei große Portionen Rührei auf je einen Teller, auf denen bereits saure Gurken und Toast lagen. Dann drehte sie sich schwungvoll zu Mel und Paddy um und drückte ihnen selbige in die Hand. 

„Und was ist mit mir?“, fragte Jimmy, ohne aufzuschauen. 

„Bei dir ist eh Hopfen und Malz verloren!“ 

„Witzig…“ 

„Keine Sorge, deins kommt auch gleich.“ 

Wieder ein Grunzen. Diesmal dankbarer Natur. 

Hungrig versenkte Paddy die Gabel in seiner Portion, schob sich das dampfende Gut zwischen die Zähne und musterte Maite. „Wieso geht es dir eigentlich so ausgesprochen gut?“ 

„Weil ich nicht sinnlos, endlos viel Alkohol in mich hineingeschüttet habe, so wie andere.“ Dann warf sie einen verliebten Blick zu John, der neben dem Herd an die Wand gelehnt stand. „Vielleicht gibt es auch noch andere Gründe.“ 

Johns Mundwinkel verzogen sich kurz zu einem überaus breitem Grinsen, bevor er zusammenzuckte und ein Reflex seine Hand an die Nase schnellen ließ. Als es sie wieder sinken ließ, fielen Paddy verfärbte Muster um sein angeschlagenes Riechorgan auf. 

„Ay, sieht schmerzhaft aus!“ 

„Nur, wenn ich lache.“ 

„Das tust du ja nicht so oft“, kicherte Maite und knuffte ihm leicht in die Seite, woraufhin er grinsen musste und seine Hand wieder hoch zur Nase schoß. 

„Sehr lustig.“ 

Während die meisten Blicke auf John lagen, stocherte Mel in ihrem Essen herum. Gelegentlich entschied sie sich für etwas Rührei, pickte aber die kleinen Schinkenspeckstückchen heraus und ließ sie fast unmerklich unter dem Tisch verschwinden, wo Liliput und Morla sie auflasen. Aber sie täuschte sich, als sie dachte, dass es keiner mitbekam, doch Paddy sagte nichts. 

„Hey, was ist los?“ Maite musterte skeptisch ihre lustlosen Versuche, etwas vom Teller aufzupicken. „Schmeckt es dir nicht oder war das letzte Bier gestern schlecht?“ 

Mel rang sich ein Lächeln ab, bemüht möglichst leidend auszusehen. „Ja, wenn es man nur Bier gewesen wäre. Mein Magen und mein Kopf würden es mir danken.“ 

„Selbst schuld.“ 

„Ich weiß.“ Und etwas an ihrem fahlen Aussehen war tatsächlich nicht vorgetäuscht. Tapfer kämpfte sie sich durch die Portion, als Angelo die Küche betrat. 

„Kaffee?“ Als hätte er ihn erwartet, hielt ihm John einen frisch gefüllten Becher unter die Nase. 

Abwehrend hob sein Bruder beide Hände, bekräftigend den Kopf schüttelnd. „Bloß nicht. Ich hab übelste Magenschmerzen!“

„Vielleicht einen Tee?“, flötete Maite weiterhin bestens gelaunt. 

Erst wollte er wieder ablehnen. Tee war eigentlich nicht so seins, doch in Anbetracht der Umstände… „Ja, danke.“ 

„Kommt gleich. Setz dich. Willst du auch was essen?“ Ohne die Antwort abzuwarten, streckte sie ihm ein trockenes Weißbrot entgegen. Wortlos nickte er, als er es ihr abnahm und direkt anfing, daran zu nagen. 

Er hatte neben Mel Platz genommen und schnupperte, als sie einen Schluck von ihrem Kaffee nahm. „Und das verträgst dein Magen?“ 

Sie zuckte die Achseln. „Wie du siehst. Da muss der jetzt durch. Man muss halt Prioritäten setzen.“ Sie hob gewohnheitsmäßig ihren Arm, um nun aber erfolglos auf die Uhr zu sehen. „Sagt mal, wie spät ist es eigentlich?“ Parallel zur Frage dreht sie den Kopf, um einen Blick auf die Küchenuhr zu werfen. „Viertel vor Acht?!“ Ich geh wieder ins Bett! Bis später.“ Sie ließ die Gabel fallen und verschwand aus der Küche fast schneller als sie den Satz beendet hatte. 

Paddy warf sich schnell die Reste seines Frühstücks in den Rachen, entsorgte dankend Mels und sein Geschirr in der Spülmaschine und folgte ihr rasch. Doch im Schlafzimmer war keine Mel. Stattdessen kamen unschöne Geräusche aus dem Badezimmer. 

Zögernd hob er die Hand und klopfte sanft mit dem Knöchel gegen die antike Holztür. Er sagt zunächst nichts und hörte nur, wie auf der anderen Seite der Tür hastig die Klospülung betätigt wurde und fast zeitgleich das Wasser am Waschbecken zu laufen begann. „Mel? Bist du da drin?“ 

„Wer sollte denn sonst hier drin sein?“ 

„Ist alles okay?“ 

„Ja, logisch!“ Sie versuchte normal zu klingen, doch ihre belegte Stimme strafte sie lügen. 

„Dann mach doch mal auf.“ 

Sie atmete so tief durch, dass er es trotz verschlossener Tür vernehmen konnte. Dennoch zierte ein breites Lächeln ihr Gesicht und kleine Schweißperlen ihren Haaransatz, als sie die Klinke herunter drückte. 

 

Sein Blick fiel einen Sekundenbruchteil darauf, sie merkte es. Der sprichwörtliche Elefant stand mitten im Raum und keiner wollte ihn benennen. Doch Mels Nervosität wuchs rasend schnell an. Sie löste sich von seinen Augen und schob sich sacht an ihm vorbei. 

„Du bist blass um die Nase.“ Seufzend steckte er die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans. Fragend zog einer eine seiner Augenbrauen hoch. face

Sie öffnete den Mund, suchte nach Ausflüchten, fand welche. 

„Ich sagte doch, dass mein Magen mir nach gestern echt Probleme macht. War eben doch ein wenig übers Ziel hinaus geschossen, schätze ich.“ 

Paddy schwieg, doch während sie ein Zimmer weiter ging, folgte er ihr. Sie musternd lehnte er sich gegen den Flügel. Noch immer ruhten seine Hände in den Taschen, eine spielte unruhig mit einem Plektron. 

Mel spürte, wie er sie beobachtete, wie sie durch das Zimmer huschte und nach etwas suchte, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. Ein leises Räuspern brachte sie dazu, sich zu ihm umzudrehen, doch eigentlich hatte es nicht ihr gegolten. Es war eines dieser Geräusche gewesen, die man manchmal macht, wenn man eigentlich tunlichst darauf bedacht ist, keinen Laut von sich zu geben. 

Paddy schloss jäh die Faust um das Plektron in seiner Tasche, als er das Glitzern in ihren Augen gesehen hatte. 

„Mel.“ Er ließ es los und tat einen Schritt in ihre Richtung. Sie war endlich stehen geblieben und auch sie sah ihn nun endlich an. Die Lippen fest aufeinander gepresst, einen Kloß in ihrem Hals steckend. Sie zuckte wortlos die Achseln, als wollte sie stumm einer unausgesprochenen Frage zustimmen. Lautlose Tränen begannen über ihre Wangen zu rinnen. Sie wollte wegrennen, wie sie es immer tat. Sie konnte nicht. 

Noch zwei weitere Schritte und er hielt sie sicher in seinen Armen. Nun schluchzte sie, als sie den Kopf gegen seine Schulter lehnte. 

„Willst du reden?“ 

Er spürte, wie sie ihren Kopf schüttelte. 

Sanft streichelte er ihren Rücken in der Hoffnung, dass sie dies beruhigen würde und das tat es auch. Das Schluchzen wurde weniger, sie löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung und setze sich auf den Schemel vom Piano. 

„Ich bin bei dir! Ich werde dir helfen!“ Er sprach ruhig und versuchte viel Wärme und Zuversicht in seine Stimme zu legen, doch es klang fast spöttisch, als sie die Luft ausstieß. „Wie denn?“ 

„Ich weiß es nicht, aber ich bin für dich da! Lass mich für dich da sei! Es gibt Therapeuten, ich gehe mit dir überall hin, wenn du das willst!“ 

Sie leckte sich nervös die Lippen, sagte aber nichts. 

„Ich weiß, du kannst nicht darüber reden, aber ich…“ Jetzt wanderten seine Augen unruhig durch das Zimmer, das zunehmend von der Morgensonne erhellt wurde, bis sie wieder auf Mel fielen. „… ich frage mich die ganze Zeit, warum? Was ist geschehen? Woher kommt das?“ Er schluckte hörbar. Er zögerte, scheute sich, die Frage laut auszusprechen. „Bin ich schuld?“

Sie sprang förmlich auf und ging die wenigen Schritte zum Fenster hinüber. „Du sagtest es gerade, ich kann jetzt nicht darüber reden.“ 

Fast geräuschlos hatte er zu ihr aufgeschlossen, seine Lippen dicht neben ihrem Ohr. „Kannst du nicht oder willst du nicht.“ 

Er sah, wie sie erneut die Lippen aufeinander presste, doch ihre Augen waren weiter auf den Garten gerichtet. Das Atmen schien ihr schwer zu fallen. „Ja...im Moment will ich nicht.“ 

So vieles ging ihr gerade wieder durch den Kopf. Bilder tauchten auf, malten Szenarien, die sie vergessen wollte, hörte Stimmen, die ihr Angst machten und welche, die sie nie wieder verlieren wollte. Und manchmal bildete sich sich ein, etwas oder auch jemanden zu riechen. Jemand, der ihre Hände zum Zittern brachte. Jemand, dessen Bild sie oftmals im Dunkeln sah, wenn sie schweißgebadet aufwachte. Es gab Moment, in denen sie glaubte, seinen Atem hinter sich zu hören, wenn sie draußen spazieren ging. 

„Hey…“ Paddy hatte seine Hand auf ihren Oberarm gelegt, als er sah, dass sich auf ihrem Gesicht wieder feuchte Rinnsale gebildet hatten. 

„Ach.“ Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen weg, wütend darüber, dass sie sich nicht im Griff hatte. Diese Momente, in denen sie ihre Gedanken nicht unter Kontrolle hatte, brachten sie an ihre Grenzen. Stets nutzten sie die Gelegenheit und flüchteten sich in die dunkelsten Ecken, die sie für gewöhnlich mit einem dreifachen Riegel verschlossen hatte. 

Er suchte ihre Augen, versuchte, ihren Blick einzufangen. In seiner Stimme lag etwas Flehendes. „Mel, ich will doch nur wissen, was ich machen kann! Kann ich irgendwas ändern?“ 

Sie zuckte mit den Achseln, ohne seinen Blick zu erwidern. „Was willst du denn ändern?“

„Irgendwas! Ich würde alles für dich ändern! Ich will einfach, dass du nicht mehr unglücklich bist!“

Jetzt hob sie den Kopf und wich ihm nicht mehr aus. „Aber ich bin nicht unglücklich!“

Skeptisch zog er die Augenbrauen hoch. „Wieso isst du denn nichts mehr oder praktisch nichts mehr. Und wenn du was isst, dann rennst du hinterher aufs Klo. Mel, es gibt Namen für dieses Verhalten und ich wurde auch schon darauf angesprochen.“ 

„Von wem? Bin ich dir etwa peinlich?“ 

„Wie bitte? Nein, natürlich nicht! Aber es gibt eben auch noch andere Menschen, denen aufgefallen ist, dass etwas mit dir nicht stimmt und dass du viel zu dünn bist. Ich weiß nicht, was los ist und ich habe Angst um dich!“

Nun waren seine Worte von Verzweiflung getragen. 

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Vielleicht auch, weil sie so ihr Gesicht verbergen konnte. 

„Du musst keine Angst um mich haben!Ich pack das schon!“ Sie schniefte erneut, Paddy schwieg. „Hey“, sie strich ihm sanft übers Haar. „Everything`s gonna be alright!“ 

Er schob sie ein Stück von sich weg und ihr Gesicht sanft nach oben. „You promise?“ 

Leise schniefte sie erneut und nickte. „I promise.“ 

Ein inniger Kuss besiegelte dieses Versprechen. 

Schritte ließen beide aufhorchen und schon wurde die angelehnte Tür aufgestoßen. Angelo hatte einen Brief in der Hand, was aber anscheinend nicht der Anlass seiner Störung war. Er deutete mit dem freien Daumen hinter sich. 

„Ich habe geklopft, ich hoffe, ich störe nicht. Paddy, hast du kurz Zeit?“ 

Eindringlich blickte er zur Mel. „Nein, ganz und gar nicht.“

Angelo schien nichts zu bemerken. „Dauert auch nicht lange.“

„Es passt gerade wirklich nicht!“ Paddy wurde beinahe ungehalten ob so wenig Taktgefühl, aber Mel legte beruhigend ihre Hand auf seinen Unterarm und ein höfliches Lächeln auf ihre Lippen. 

„Ach, Angelo, du kannst ruhig bleiben. Wir waren ohnehin gerade fertig.“ 

Ehe Paddy Einspruch erheben konnte, schloss sie bereits die Tür hinter sich und konnte gerade noch hören, wie Paddy seine Stimme ein wenig erhob. „Ey, Angelo, gehts noch?!“ 



Kommentare: 0