93. Kapitel Raindrops keep falling' on my head



Mel schmunzelte. Manchmal hatte ihr Schwager doch ein gutes Timing. 

Dann griff sie ihre Jacke von der Stuhllehne und machte sich auf die Suche nach Lea. Da sie meist draußen war, wollte sie zuerst dort nachschauen. Trotz des mittlerweile grauen Wetters war es Mel sehr recht, an die frische Luft zu kommen. 

Aber als sie an der Küche vorbeikam, hörte sie die Stimmen von Kathy und Joey. 

„Ehrlich? Das ist ja total schade! Ich mochte sie so gern und sie gehörte doch schon so lange zu uns.“ Kathys Stimme klang bedrückt und auch Joey schien nicht gerade glücklich. „Ja, aber es ist wohl nicht zu ändern. Sie will zu ihrem Freund ziehen.“ 

Nanu, sollten die beiden etwas von Tina gehört haben? 

Sie streckte neugierig den Kopf ins Zimmer. 

„Hi ihr zwei. Hat Tina sich gemeldet?“ Doch beide schüttelte die Köpfe. 

„Bei mir nicht“, antwortete Joey zähneknirschend. 

„Ich dachte nur…dann hab ich euch wohl gerade missverstanden.“ 

Kathy nickte. „Es ging um Katharina unsere Merchandisehummel. Sie geht nach San Diego zu ihrem Freund.“

„Was? Katinka? Och nö. Ich mag sie echt gerne. Wann denn?“ 

„So bald wie möglich. Also im Prinzip sobald wir einen Ersatz haben und sie aus dem Vertrag entlassen.“

„Grüßt sie schön und sagt ihr, dass ich ihr alles Gute wünsche!“ Sie schlüpfte in ihre Regenjacke und wollte gerade gehen, als Joey sie noch einmal anhielt. 

„Hast du auch nichts von Tina gehört?“ 

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe vorhin versucht, sie anzurufen, aber sie hat mich weggedrückt. Soll ich ihr irgendwas ausrichten, wenn ich von ihr höre?“ 

Er zögerte kurz. „Eigentlich nicht...doch, sag ihr, ich würde mich freuen, wenn sie sich bei mir melden würde.“ 

„Mach ich.“ Sie nickte ihm aufmunternd zu und setzte ihren eigentlichen Weg fort. 

Sie war froh, dass niemandem ihr verquollenes Gesicht aufgefallen war, daher wollte sie die Begegnung nicht unnötig in die Länge ziehen. Sie musste dringend den Kopf frei bekommen. Als sie vor die Tür trat, fiel ihr bereits der kühle Regen ins Gesicht und sie hieß ihn willkommen. Trotzdem setzte sie sich die Kapuze auf und war froh, sich für die Gummistiefel entschieden zu haben, als sie wenige Meter später die Größe einer Pfütze massiv unterschätzte. Aber mehr Beachtung als ein leichtes Schmunzeln schenkte sie dem nicht. 

 

Jetzt war es raus. Wenn sie sich auch nicht direkt dazu geäußert hatte, hatte sie dennoch zugegeben, dass es ein Problem gab. Paddy sicherte ihr volle Unterstützung zu, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr das groß helfen würde. Sie schämte sich ein wenig, weil er es gut meinte, aber sie wollte einfach nicht darüber reden! Sie solle eine Therapie machen, hatte er gemeint. Aber auch dort würde sie reden müssen und das mit völlig Fremden! Aber mit ihm wollte sie auch nicht reden! Sie konnte einfach nicht. Zu lange fraß sie all das teils im wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein. Sie liebte ihn, er war ihr Mann und doch hatte sie Hemmungen, auch wenn sie sich schon so lange kannten. 

Aber sie wusste, dass sie es nicht auf Dauer würde vermeiden können. Das war wohl auch gut so. 

Nach dem Gespräch mit Paddy fühlte sie sich ziemlich ausgelaugt, auch wenn sie mit Details und dem Gros ihrer Gefühle hinter dem Berg gehalten hatte, aber dennoch ging es ihr besser. 

Der stumme Stein auf ihrer Seele war ein wenig leichter geworden, fast als würde sie ihn nicht mehr alleine tragen müssen. Dennoch war da auch das Gefühl, dass sie nun auf dem Präsentierteller lag, ständig unter Beobachtung. Jetzt bildete sie sich das nicht mehr ein, jetzt wusste sie, dass es so war. Sie sog die klare Regenluft ein, versuchte ihre aufsteigende Panik beiseite zu schieben. Es gelang ihr. 

Nach wenigen Metern zückte sie ihr Handy, versuchte noch einmal, Tina anzurufen, doch sie wurde erneut weggedrückt. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, lockte sie das Geräusch tollender Hunde weiter in den Garten hinein. 

Liliput war es, die sie freudig um ihre Beine hüpfend aus ihren Gedanken riss. 

„Hey süße Maus!“ Sie beugte sich hinunter, um die kleine Hündin auf den Arm zu nehmen, welche ihr liebevoll das Gesicht abschleckte. Da tauchte auch Lea aus dem Unterholz auf, den Rest der Meute auf ihren Fersen. 

„Huch, wo ist Bono?“, wunderte sich Mel, woraufhin Lea sie irritiert ansah. „Melbourne“, korrigierte sich Mel und verzichtete darauf, sie über Jimmys Vorlieben aufzuklären. 

„Achso, der ist bei Jimmy. Die zwei haben sich wirklich gesucht und gefunden. Sie sind total ineinander vernarrt.“ Sie kicherte amüsiert. „Besonders hat mir gefallen, als ich ihn heute ganz früh gesehen habe, wie mit ihm raus musste. Er hat heute bei Jimmy im Bett geschlafen.“ 

Auch Mel fiel in das Gekicher ein. Jimmy war nicht gerade bekannt dafür, ein Frühaufsteher zu sein. 

Dann wurde Lea wieder ernst. „Aber es passt gut, dass du kommst. Ich muss gleich los.“ 

„Echt jetzt?“ Traurig ließ Mel die Schultern hängen. Gerade nachdem Tina auch so Hals über Kopf abgehauen war, hatte sie gehofft, dass Lea ihren Aufenthalt noch verlängern würde. Kurz hielt sie inne, bevor sie weitersprach. 

„Willst du nicht noch bleiben?“ 

Doch Lea schüttelte den Kopf. „Ich muss leider übermorgen wieder auf Arbeit sein. 

„Komm schon! Wenigstens bis morgen!“

„Na schön, dann eben bis morgen“, lenkte sie ein, schien sich aber selbst auch über ihre Entscheidung zu freuen.  

„Und weißt du was, morgen komme ich einfach mit! Ich muss sowieso mal wieder Blumen gießen.“ 

Lea runzelte die Stirn. „Du hast doch gar keine Blumen.“ 

„Ich weiß, aber das tut doch nichts zur Sache“, kicherte Mel. Ob Paddy das auch klar war, wusste sie nicht, aber sie wollte dringend etwas Abstand zu ihm schaffen und ihm auch sonst möglichst wenig Gelegenheit geben, sie wegen des leidigen Essenthemas zu bedrängen. Zudem machte es die Nahrungsaufnahme nicht einfacher, wenn jeder Bissen mitgezählt wurde. 

„Das wird super! Ich muss sowieso mal wieder in meine Wohnung.“ 

„Und was meint Paddy dazu?“ 

„Keine Ahnung, aber ich seh’ da nicht so das Problem. Im Gegenteil. Die müssen sowieso die Tage wieder ins Studio.“

„Ich kann mir schon vorstellen, dass er das nicht so gut findet.“ Lea musterte Mel skeptisch. Sie suchte nach den richtigen Worten. „Er wirkt im Moment so protektionistisch.“ 

Leise seufzte Mel, nickte dabei unmerklich. „Ein wenig.“ 

„Weißt du warum?“ 

Ein gequälter Ausdruck erschien auf Mels Gesicht. „Ach, lass uns ein anderes Mal darüber reden.“ 

Doch trotzdem wünschte sie sich, dass ihre Freundin noch länger bliebe. 

„Ich muss leider rein, die Kleinen sollten aus dem Regen raus, bevor sie komplett durchnässt sind. Jimmy muss ich auch noch klar machen, dass Bono, so nanntest du ihn doch vorhin, noch die meiste Zeit bei Morla bleiben muss. Schade auch, dass ich Davi noch nicht mitnehmen kann.“ 

„Das glaube ich. Aber morgen nehmen wir sie erstmal mit.“ Mel wollte Lea aufmuntern, aber die wirkte nicht besonders begeistert. „Mel, ich denke, das ist keine gute Idee. So lange Touren stressen sie in ihrem Alter noch enorm.“

Das musste auch Mel einsehen. „Na gut, vielleicht nimmt Paddy sie ja. Oder Jimmy.“ 

Beide sahen sich an und kicherten höhnisch. 

„Ich bleibe noch ein bisschen draußen. Ein Spaziergang im Regen ist die beste Möglichkeit, um den Kopf wieder auf Vordermann zu bringen.“ 

„Wenn du reden willst, kann ich die Meute reinbringen und wir quatschen ein bisschen.“ 

Es war ein liebes Angebot, aber Mel schüttelte den Kopf. „Danke, aber im Moment muss ich mir alleine über einige Dinge klar werden. Wir sehen uns später. Vielleicht komme ich dann darauf zurück.“

In Leas Augen stand Verständnis und der Ausdruck einer echten Freundin.

„Also bis später. Ich mach es mir jetzt mit den Kleinen vor dem Kamin gemütlich.“

„Du bist mit Angelo verabredet?“ Mel knuffte sie mit dem Ellenbogen leicht in die Seite. 

„Lass ihn das bloß nicht hören! Der hat es aktuell schon schwer genug.“ 

„Ich weiß. Trotzdem kennt er mich, der kann das ab.“ Sie schwieg einen kurzen Moment, bevor sie den entstehenden Gedanken aussprach.

„Ach, Lea, ich wünschte, du würdest gar nicht mehr wegfahren.“ 

„Ich auch. Aber mein Chef sieht das leider anders.“ 

„Hier gibt es auch Arbeitgeber. Du findest in Köln bestimmt was!“

Lea zuckte die Acheln. „Ja, möglich ist das schon. Dort gibt es mit Sicherheit mehr Werbeagenturen als im Harz.“ 

Plötzlich wurden Mels Augen groß und sie riss die Brauen hoch. „Mensch, hier bei uns wird doch eine Stelle frei. Werbung! Das ist doch eng verwandt mit Merchandise!“ 

Lea wurde von der Euphorie noch nicht sofort gepackt. „Ernsthaft? Du meinst, ich soll auf den Konzerten hinter einem Stand stehen und T-Shirts verkaufen? Also nichts gegen den Job, aber mein Leben lang möchte ich das nicht machen.“ 

„Nein, du würdest entwickeln, was dort verkauft wird. Dir überlegen, was bei den Fans gut ankommen könnte. Auch Shirts, Tassen etc. mit Bilder und Fotos oder auch Sprüchen oder Zitaten designen!“ Dann wurde sie ein wenig ruhiger. „Das ist zumindest das, was Katinka immer gemacht hat.“

Nun wurde Lea nachdenklich. „Also wenn du meinst, dass das vielleicht für die anderen okay wäre, dann müsste ich mir eine Wohnung suchen. Also dann doch eher morgen herumfahren und nach einer Wohnung suchen statt nach Hause.“ 

Mel knuffte ihr aufgeregt gegen die Schulter. „Wozu eine Wohnung suchen? Hier auf dem Gelände sind genug Möglichkeiten. Wenn ich mich nicht irre, ist auch im Schloss noch was frei. Was meinst du?“ 

Lea schnaufte überfahren. „Puh, das wäre krass! Lass mich eine Nacht darüber schlafen, okay?“ 

„Ach was. Wir reden nachher mal mit den anderen, bevor jemand die Stelle an jemand anderen vergibt. Falls sie einverstanden sind, kannst du ja ruhig sagen, dass du noch eine Nacht darüber schlafen willst, aber dass du ernstes Interesse hast. Das werden die verstehen.“ 

„Okay, dann machen wir das. Gott, plötzlich bin ich ganz aufgeregt! Das würde mein gesamtes Leben auf den Kopf stellen!“ 

Mel schmunzelte. „Ja, so ging es mir auch damals. Aber ich bin da eher so ...reingerutscht.“ 

Lea lachte. „Dann bis später!“ 

Mel erwiderte nichts mehr und hob lediglich die Hand zum Abschied, bevor sie ihren Weg fortsetzte. 

 

 

Angelo hatte Paddy länger festgehalten, als es ihm lieb gewesen war. Für ihn war das Gespräch noch lange nicht zu Ende gewesen. Immerhin hatte er endlich mal die Gelegenheit gehabt und mit ihr darüber wenigstens ansatzweise sprechen können! Durch Angelos Störung hatte sie sich am Ende doch noch entziehen können. In der Küche traf er nun auf mehrere seiner Geschwister. „Hat jemand Mel gesehen?“

„Die wollte vorhin raus“, antwortete Joey sofort. 

„Weißt du wohin?“ 

Doch er schüttelte nur den Kopf und rührte weiter in seinem Kaffee. 

„Dann gehe ich mal nachschauen.“ Doch als er zur Küche hinaus wollte, stand Lea auf einmal in der Tür. „Sie wollte nachdenken. Es kann aber gut sein, dass du ihr dabei willkommen bist.“ 

„Ich vermute, dann hätte sie auf mich gewartet. Vielleicht braucht sie ein wenig Zeit für sich.“ Er legte seine Jacke wieder über die Stuhllehne und setzte sich auf die dazugehörige Sitzfläche. „Ist noch Kaffee da?“ 

Ohne zu antworten, stellte Joey einen Becher vor seine Nase und schenkte voll. 

„Wie siehts denn mit eurer Vorbereitung fürs Album aus? Ab morgen gehts ins Studio, Matthias erwartet uns gegen neun“, warf Paddy die Frage offen in die Runde und Kathy war die erste, die reagierte. „Ich hab drei Songs zur Auswahl, die ich einbringen könnte. Wir müssen halt schauen, was für Lieder von euch allen kommen und was dann zusammenpasst. Und in welche Richtung die Platte insgesamt gehen soll.“

„Ich hab zwei Songs, die ich euch gerne vorstellen würde“, begann Barby und wippte mit dem Teebeutel in ihrer Tasse, bevor sie ihn entfernte und auf einem Teller legte. „Das eine wäre ein Duett mit einem der Jungs. Vielleicht Angelo oder auch Paddy.“ „Das klingt gut. Das kannst du mir sonst gerne gleich mal vorspielen“, schlug Paddy vor, dann blickte er zu Joey. „Und Joey wie sieht es bei dir aus?“ „Ja, ne, läuft“, antwortete Joey, konnte sein Kichern schließlich aber nicht mehr unterdrücken. 

„Alles klar, wir schreiben wieder im Studio?“ Auch Paddy konnte nicht ernst bleiben und Joey zwinkerte schelmisch, bevor er die Hand zum Abschied hob und die Küche verließ. 

 

 

 

Abgesehen von der Sache mit Tina hatte der Tag doch ganz gut angefangen. Sie hoffte, dass sich das auch bald klären würde. Auch wenn sie nicht mehr die Freundschaft von früher hatten, war das kein sehr schöner Abgang gewesen. Sie machte sich Sorgen um ihre alte Freundin. Sie hatte so schrecklich verletzt ausgesehen und das, obwohl sie eigentlich am liebsten vermied, zu viele Gefühle zu zeigen. Sie zückte erneut ihr Handy, aber es war kein Rückruf erfolgt. 

Dafür war das Gespräch mit Lea super aufregend gewesen! Alleine die Vorstellung, dass sie vielleicht bald hier wohnen würde, war fantastisch! Und das Gespräch mit Paddy hätte deutlich schlimmer laufen können. 

Es wurmte sie ein wenig, dass sie ihm tatsächlich keine Antwort geben konnte, was der Grund dafür war. 

Gemächlich wanderte sie durch die Bäume des Anwesens, die sich immer mehr verdichteten. Regen tropfte von den Ästen und ihrer Nasenspitze. Sie liebte dieses Wetter! Für März waren sogar die Temperaturen ungewöhnlich mild. Der Weg bekam allmählich Waldwegcharakter und duftete durch den Regen wunderbar nach Bäumen. Auf dem Boden mischte sich altes Laub vom letzten Herbst mit braunen Nadeln, die von ihren in die Höhe strebenden Besitzern abgestoßen worden waren und dämmte ihre Schritte.  

Doch trotz der Herrlichkeit um sie herum, holten ihre Gedanken sie wieder ein. Ja, wann hatte das begonnen? Es war vermutlich, als sie das erste Mal das Gefühl hatte, dass sie die Kontrolle verlieren würde. Aber da war das alles noch harmlos gewesen. Erst als sie das erste Mal wirklich Angst um ihr Leben gehabt hatte,  als Frank ihr gedroht hatte, sie umzubringen, entglitt ihr restlos alles. Wie sollte sie mit Paddy darüber sprechen können? Sie wollte es einfach nur vergessen! Sie hatte irgendwie versucht, wieder alles in den Griff zu bekommen! Dabei hatte sie damit erst recht das Zepter verloren. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, es sei nicht richtig, Weiblichkeit zu entwickeln. Es hatte sie zum Zielobjekt gemacht und das wollte sie nie wieder sein! Manchmal wünschte sie, sie wäre unsichtbar.   

Übelkeit stieg in ihr hoch, als sich die alten Bilder manifestierten. Sie wurden so plastisch, dass sie sogar das Gefühl bekam, dass sich sein billiges Rasierwasser in die Schönheit des Waldes mischte. Wie immer, wenn der Gedanke an die Vergangenheit ihr die Luft zum Atmen zu nehmen schien, versuchte sie sich bewusst zu entspannen. Sie schloss die Augen und sog die klare Waldluft in ihre Lungen, doch heute blieb das seltsame Gefühl. Unfähig sich zu bewegen, gefror ihr das Blut in den Adern, denn im selben Moment spürte sie, dass sie nicht alleine war.

 


„Hallo Mel.“ Die kalte Stimme war direkt hinter ihr. Es war seine Stimme und sie troff vor Genugtuung. 

Mels Gedanken rasten schneller, als sie sie greifen konnte!

Das konnte doch gar nicht sein! Wie kam er hier her?! Und was sie sich eigentlich nicht zu fragen traute: Was wollte er? 

Sie wollte weglaufen, sich in Sicherheit bringen, doch sie war viel zu weit vom Schloß entfernt! Panische Angst schnürte ihre Kehle zu. Was würde er tun, wenn sie versuchen würde wegzulaufen? Was würde er tun, wenn sie es nicht täte?! Binnen einer Sekunde wurde ihr diese Entscheidung abgenommen.  

„Frank, ich…“ Doch weiter kam sie nicht. Er stand hinter ihr und seine Hand war zu ihrem Mund geschnellt, auf dem sie unnachgiebig liegen blieb. Sein anderer Arm schlang sich um ihren Oberkörper und mühelos zog er sie noch weiter zwischen die Bäume. Auch ihre Nase war von seinen Fingern bedeckt und panisch begann sie zu zappeln, doch sie war schlicht machtlos! Endlich blieb er stehen. Ihren Kopf weiterhin an seinen Oberkörper gepresst, zwang er ihr Gesicht nach oben, so dass sie ihn ansehen musste. Ihr wurde allmählich schwarz vor Augen. 

„Hör mir gut zu! Ich muss mit dir reden, deshalb werde ich gleich meine Hand wegnehmen. Aber wenn du nach Hilfe rufst, wird es sehr unschön werden!“ Er blickte sich kurz um und schnaufte spöttisch. „Wobei dich hier wohl ohnehin keiner hören würde. Trotzdem will ich keinen Laut von dir hören, wenn ich jetzt loslasse! Außer wenn ich dich etwas frage! Hast du mich verstanden?!“ Mel nickte, so weit es ihr sein Griff gestattete. Verzweifelte Tränen rannen über ihr Gesicht. Langsam löste sich seine Hand und sie schnappte begierig nach Luft.

Sie wollte trotzdem schreien, aber sie konnte einfach nicht! Inzwischen wusste sie, wozu er im Stande war und mit der anderen Hand hatte er mit eiserner Faust ihren Oberarm gepackt. Sie hätte nicht mal versuchen können wegzulaufen! 

„Ich habe eine Vorladung vom Gericht bekommen! Wenn du dort irgendwas sagst, das mich in Schwierigkeiten bringen sollte, wirst du in deinem Leben keine ruhige Minute mehr haben! Ich habe nichts getan, was mich auf ewig in den Knast bringt! Ich werde wiederkommen und ich werde dich finden! Das sollte dir inzwischen klar sein!“ Er war ihrem Gesicht immer näher gekommen und sie war unwillkürlich zurückgewichen, doch dann stieß sie mit dem Rücken gegen den dicken Stamm eines Baumes. 

„Bitte! Was willst du nur von mir? Du kennst mich doch gar nicht!“ Sie flüsterte und selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte gar nicht lauter reden können! Ihre Stimme war wie gelähmt, doch er schien sie ohnehin nicht gehört zu haben. Seine Gedanken waren ganz woanders. 

Seine Lippen verzogen sich zu einem widerlichen, gierigen Grinsen, als er ihr langsam die Kapuze vom Kopf schob und mit seinen nach Nikotin stinkenden Fingern über ihre nachwachsenden Haare strich, um dann den scharfen Konturen ihres Gesichts hinab zu folgen. 

„Was ist nur aus dir geworden? Du warst einmal so schön.“ Er musterte ihre Narben, ließ dann aber den Blick weiter über ihren Körper gleiten. „Und doch bist du es irgendwie immer noch…“ 

„Aber warum…“ Ihre Frage wurde im Keim erstickt, als seine Hand auf ihrer Brust zu erliegen kam. Die Worte blieben ihr im Halse stecken, doch ihr Kinn fing an zu zittern und Tränen stiegen erneut in ihre Augen. Für einen kurzen Moment hatte sie gehofft, dass es ihm nur um die dämliche Vorladung ging.

„Warum? Weil ich mir nehme, was ich will, das habe ich dir schon damals gesagt! Und ich will dich! Und jetzt deine Hände hinter den Rücken!“ Nur Sekunden später trafen seine Finger ihr Gesicht. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrer Lippe und schmeckte das Blut, das aus ihrem Mundwinkel lief. „Wenn du nicht tust, was ich dir sage, wird es nicht gut ausgehen!“ 

Zitternd nahm sie ihre Arme hinter den Rücken, wo seine riesige Hand nun ihre zarten Handgelenke fixierte, während die andere sich von ihrem Arm löste und ihr erneut die Luft nahm, als sie sich um ihre Kehle schloss. Er senkte seinen Kopf und sog langsam ihren Geruch ein. 

„Es wäre doch schade, wenn dieser hübsche Hals zu nichts mehr zu gebrauchen wäre, oder? Ich will wissen, ob du mich verstanden hast!“ Wieder deutete sie ein Nicken an und er lockerte seine Finger etwas. Sie drückte sich krampfhaft gegen die feuchte Rinde, doch sie konnte keinen Zentimeter mehr zwischen ihn und sich bringen. Sie roch, dass er Alkohol getrunken hatte, aber betrunken schien er nicht zu sein. Er wusste, was er tat. 

„Gutes Mädchen! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Dann wollen wir mal zum spaßigen Teil kommen! So lange hast du mich nun warten lassen!“ Siegessicher grinste er, ließ ihre Kehle los und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen.

Mel schüttelte den Kopf. „Nein, bitte nicht! Ich verspreche dir, dass ich vor Gericht nichts sagen werde! Lass mich bitte gehen! Ich werde nicht sagen, dass wir uns begegnet sind!“ „Das will ich dir auch geraten haben!Aber noch mal kommst du mir nicht davon. Heute nicht! Und jetzt runter mit dir!“ Er schob sie am Baum vorbei und drückte sie zu Boden, der aufgeweicht vom Regen weder Händen noch Füßen nennenswerten Halt bot. Er löste seine Hand von ihren Gelenken, um sich mit beiden seine Hose zu öffnen, doch Mels Reaktion brachte ihn wieder davon ab. Sie stemmte sich mit den Armen hoch, versuchte rückwärts zu krabbeln, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Doch Brombeerranken versperrten ihren Weg und stoppten sie, während er sich hinkniete und dann über sie beugte, um zunächst sie zu entblößen. 

„Nein, Frank! Bitte tu das nicht!“, bettelte sie, ließ sich zur Seite fallen, versuchte wegzukriechen, krallte die Nägel in das feuchte Erdreich, wo sie tiefe Furchen hinterließen, als er sie an den Beinen zurückzog. Sie strampelte und versuchte verzweifelt, ihn zu treten. „Nein! Lass mich los!“ „Ja, ich mag dein Temperament! Das hat mir schon bei unserer ersten Begegnung so gefallen!“ Lüstern blitzten seine Augen auf. 

Der eben noch so geliebte Waldboden, nahm Mel jegliche Chancen. Mühelos drehte er sie herum, seine Hand öffnete ihre Hose und bei einem weiteren Fluchtversuch, zog er sie herunter. Dann beugte er sich über sie, knöpfte auch seine Hose auf und schob ihre Beine auseinander. Ihre Versuche, sie zusammenzuhalten, ihn abzuwehren, blieben erfolglos. 

„Du sollst ein braves Mädchen sein! Du wirst schon auch auf deine Kosten kommen!“

„Bitte nicht! Bitte…!“, flehte sie unter Tränen, als sie sein Glied zwischen ihren Beinen spürte und er mit seinem Becken ihre Schenkel noch weiter auseinanderdrückte. Sie versuchte, seinen muskulösen Körper wegzuschieben, konnte ihn jedoch nicht aufhalten. Stattdessen packte er sie wieder am Hals und vollendete mit einem kräftigen Stoß seinen lang gehegten Plan. Genüsslich begann er, sich in ihr zu bewegen, zu stöhnen, während sie nichts als Schmerz, Angst und Scham fühlte. 

Sie trommelte hilflos mit den Fäusten gegen seinen Oberkörper. „Hör auf! Bitte, Frank! Nein! Du tust mir weh!“ Tränen rannen ihre Schläfen hinunter und jedes Wort presste sie mühsam hervor. Endlich gab er ihren Hals wieder frei und fixierte nun mit beiden Händen ihre beidseits ihres Kopfs.

Sie begann verzweifelt zu schreien, als er anfing, sich schneller zu bewegen und verschwommen sah sie sein geiferndes Grinsen über sich. „Ja, schrei! So hab ich mir das vorgestellt! Oh, das gefällt mir! Und das gefällt dir! Und wie dir das gefällt! Ich kann es in deinen Augen sehen!“ 

Doch ihre Schreie gingen allmählich in Schluchzen über. „Nein! Hab Mitleid! Lass mich endlich gehen!“ Und tatsächlich richtete er sich auf, ließ sie los, aber statt sie gehen zu lassen, griff er nach dem Schal, der nur noch halb an ihrem Hals hing.

Sie konnte doch nicht so einfach aufgeben! Wieder stemmte sie sich in dieser unaufmerksamen Sekunde hoch, was einen erneuten Schlag ins Gesicht zur Folge hatte. 

„Ich warne dich zum letzten Mal! Jetzt dreh dich auf den Bauch und nimm die Hände wieder hinter den Rücken! Dich werde ich lehren, nicht wegzurennen!“

Was hatte sie noch zu verlieren? Alles. Trotzdem nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und versuchte noch einmal, unter ihm wegzukommen, doch er erwischte sie sofort und Hände und Füße glitten erneut auf dem morastigen Boden weg. Sie verlor jeden Halt und ihr Kopf schlug heftig auf einem großen Stein auf. Dann wurde alles schwarz.

 


 

Hatte sie gerade ihren Namen gehört? 

Als Mel die Augen öffnete, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Sie lag auf dem Bauch, in ihrem Kopf pochte es schier unerträglich und ihr teils unbedeckter Körper zitterte vor Kälte. Ihr Gesicht lag seitlich auf dem aufgeweichten Waldboden, der Mund leicht geöffnet. Als sie leise stöhnend den Kopf etwas anhob, spuckte sie zähneknirschend ein wenig mit Blut vermischter Erde aus. Schläfe und Kiefer schmerzten bei jeder Bewegung. Es war, als wäre sie gerade aus einem Albtraum aufgewacht, nur dass es sich anfühlte, als wäre sie immer noch mittendrin.

Sie fror erbärmlich! Sie musste irgendwo ins Warme. Wo war sie eigentlich?

Zunächst musste sich einen Überblick verschaffen und orientieren, doch als sie aufstehen wollte, merkte sie entsetzt, dass ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Wider Erwarten gab der Knoten aber nahezu sofort nach, als sie die Arme auseinanderzog und sich wie benommen hinsetzte. Es war der dünne Schal, den Caro ihr einmal geschenkt hatte, der noch an einer Hand hing. Achtlos warf sie ihn auf den Boden und rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Deren Aussehen nach zu urteilen, schien der Knoten nicht immer so locker gesessen zu haben. Auch jetzt konnte sie noch nicht recht begreifen, was eigentlich los war. Nur, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmte und ihr so ziemlich alles weh tat! Manches mehr als anderes. 

Das Blinzeln fiel ihr schwer, etwas war ihr in die Augen gelaufen und schien auch in ihren Haaren zu kleben. 

Als sie vorsichtig mit der Hand darüber strich, konnte sie trotz des schwindenden Lichts die rote Farbe an ihren schmutzigen Fingern erkennen. 

Zögernd versuchte sie, sich auf alle viere zu hieven, was von starken Schmerzen begleitet wurde. Mit einer Hand stützte sie sich an einem großen Baum ab und stellte sich schließlich langsam mit gesenktem Kopf auf ihre wackeligen Beine. Ihr Blick fiel auf die nackte Haut unterhalb ihres T-Shirt Saums. An ihren Oberschenkeln und auch an ihrer Kleidung klebte Blut und Schlamm. 

Allmählich dämmerte ihr wieder, was geschehen war.

Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie lehnte sich rückwärts gegen den Baum, streckte ihr Gesicht dem Regen entgegen, der sich mit ihren Tränen vermischte. Ohne hinzusehen, schob sie ängstlich ihre Hand nach unten und berührte gepeinigte Haut statt dünnem Stoff. Im gleichen Moment sah sie sein Gesicht wieder vor sich. Angewidert beugte sie sich vor, um schwallartig zu erbrechen. 

„Mel?“ Kurze Stille. „Mel?!“ Lauter werdende Stimmen drangen zu ihrem Bewusstsein durch. Es waren mehrere und sie schienen näher zu kommen. Hektisch warf sie den Kopf hin und her, was von übelstem Schwindel begleitet wurde und sah erneut an sich herunter. Panisch zog sie ihre Jeans aus dem Dreck und zerrte sie vorsichtig hoch. Auch hob sie den schmutzigen Schal auf, um ihn sich um den schmerzenden Hals zu wickeln.

Niemand sollte sie so sehen! Sie schämte sich! Warum in Gottes Namen schämte sie sich?! Aber sie konnte es nicht ändern, sie tat es nun mal! 

Wieder hörte sie ihren Namen. Mühsam versuchte sie zu antworten. „Ich bin hier!“ Doch ihre Stimme war kraftlos, sollte von einem beginnenden Weinkrampf überwältigt werden. 

Ihre eigene Stimme zu hören, hatte die Realität zurückgeholt, hatte es … wirklich gemacht. Panik stieg in ihr auf! 

Sie wollte auf keinen Fall, dass jemand erkannte, was geschehen war! Aber sie konnte es auch kaum ertragen, jetzt alleine zu sein! 

Schluchzend versuchte sie sich aufzurichten, wischte den Schmutz von ihren Fingern halbherzig an ihren Klamotten ab, steckte zwei davon in den Mund und pfiff. Die Rufe erstarben kurz, bevor sie in ein lautes Gemurmel umschlugen. „Es kam von da!“ Das war Angelos Stimme! Doch es war Morla, dicht gefolgt von Paddy, die sie zuerst erreichte. 

„Gott sei Dank! Da bist du ja!“ Er erhob sofort seine Stimme, bevor er sie näher betrachtete. „Ich hab sie!“, schrie er den anderen Suchenden zu. Dann trat er einen Schritt auf sie zu und wollte sie in den Arm nehmen, als er realisierte, wie ramponiert sie aussah. „Verdammt, was ist passiert? Ist alles okay?“ Doch er merkte selbst, dass ihr Anblick die Frage eigentlich überflüssig machte.  

Sie öffnete langsam den Mund. „Ich ähm…“ 

„Du blutest ja! Lass mal sehen!“ Er hob seine Taschenlampe hoch und besah sich erschrocken ihren Hinterkopf und ihr Gesicht. 

„Ich bin hingefallen.“ Sie deutete auf den größeren Stein, der ebenfalls Spuren ihres Blutes aufwies. 

„Da musst du aber heftig gefallen sein! Du hast ja sogar im Gesicht was abbekommen. Deine Lippe ist aufgerissen und du siehst aus, als hättest du dich im Schlamm gewälzt! Du machst auch keine halben Sachen.“

Inzwischen waren auch die andere angekommen und musterten sie besorgt. 

„Ja, ich glaube, ich bin irgendwie ausgerutscht. Ich muss ohnmächtig geworden sein. Vorhin war es doch noch hell.“ Wieder wurde ihr schwindelig und sie suchte Halt an Paddys Arm. 

„Sollen wir dich zum Arzt bringen?“ Er versuchte, ihrem Blick zu begegnen, doch das gelang ihm nicht. 

„Natürlich muss sie zum Arzt!“ Joey ging dazwischen. „Ich fahre euch ins Krankenhaus! Die müssen doch deinen Kopf untersuchen! Ist dir schwindelig?“ 

Sie nickte. „Aber ich will nicht zum Arzt! Ich will nicht schon wieder ins Krankenhaus!“ 

„Sorry, Mel, aber darüber wird nicht diskutiert. Kannst du laufen?“ 

Sie versuchte ein paar Schritte, konnte aber nicht ausmachen, ob die Schmerzen in Kopf und Körper schlimmer waren oder der Schwindel und die Übelkeit. So oder so neigte sie dazu die Frage wortlos zu verneinen. 

„Komm, ich trage dich“, bot Joey an, doch Paddy drückte ihm seine Taschenlampe in die Hand. „Danke, aber das mache ich schon. Nimm du die Lampe und leuchte den Weg aus.“

„Welchen Weg?“ 

Jetzt stutzte auch Paddy. „Ja, was hast du hier gemacht?“ 

„Ich glaube, ich wollte irgendwas nachschauen.“ 

„Was denn?“ 

„Ich weiß es nicht mehr“, antwortete sie leise, dann schloss sie die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während er sie zum Schloss zurücktrug. 

 

Auch während der Fahrt ins Krankenhaus hatte sie Schwierigkeiten die Augen offen zu halten. Sie saßen auf der Rückbank, während Joey fuhr. Mels Kopf lag ungeachtet jeglicher Vorschriften auf Paddys Schoß. 

„Mel, bleib wach! Du darfst nicht einschlafen!“ Paddy rüttelte sie sanft. 

„Wieso? Red doch keinen Quatsch! Lass mich einfach einen Augenblick pennen.“ 

Aber sobald sie abdriftete, sah sie sein Gesicht vor Augen, bildete sich ein, ihn zu riechen, riss die Augen auf, um zu sehen, ob es wirklich nur Einbildung war! 

Unglücklich beobachtete Paddy sie, während er sanft über ihre Haare streichelte, immer darauf bedacht, nicht an die Wunde zu kommen, die sie notdürftig abgeklebt hatten, bevor sie aufgebrochen waren. 

„Los, Joey, hilf mal!“ 

Paddy hatte die Tür geöffnet, sobald der Wagen vor dem Krankenhaus gehalten hatte. Er sah lieber davon ab, Mel hineinzutragen, sollte es stattdessen auch mit Joeys Hilfe untergehakt gehen. 

„Meinst du, du kannst gehen, wenn wir dich stützen?“ Mel nickte matt, ohne zu antworten. Ihr Kopf dröhnte nach wie vor und machte den Schwindel nur noch schlimmer.

„Guten Abend, ich bin Schwester Anne. Wie kann ich helfen?“, stellte sich die Schwester im mittleren Alter am Tresen der Notaufnahme vor. Der Wartebereich quoll nicht über, aber einige angehende Patienten warteten dort. 

„Meine Frau ist gestürzt. Sie hat sich den Kopf angeschlagen und hat eine Wunde am Hinterkopf. Ihr ist sehr schlecht und sie hat rasendes Kopfweh.“

„Mir ist schwindelig“, ergänzte Mel. 

Die Schwester nickte, während sie Mel eingehend musterte. Ihre Augen scannten sie förmlich von Kopf bis Fuß. 

„Soso, gestürzt. Haben Sie saubere und trockene Sachen dabei?“

„Ähm, nein.“ Mels Blick fiel auf ihre Begleiter. „Oder?“ 

„Nein, es musste alles so schnell gehen.“

„Dann kommen Sie mal mit. Ich gebe Ihnen etwas, das Sie anziehen können, bis Ihnen was gebracht wird. Dann werde ich mir auch gleich mal die Wunde ansehen und Blut abnehmen.“ 

„Wieso denn Blut abnehmen?“ 

„Das ist Routine, dann sind wir vorbereitet.“ 

„Wofür?“ Mel bekam ein wenig Panik. 

„Keine Sorge, es ist wirklich das normale Procedere hier. Bitte hier lang.“ Sie wies mit dem Arm in einen Nebengang. „Dort kann Ihr Mann Ihnen helfen, sich frisch zu machen.“ 

Plötzlich ließ Mel sowohl Joey als auch Paddy los. 

„Oh, das kann ich doch alleine!“ Sie lächelte die Schwester freundlich an, als ihr auch schon sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Sofort wurde sie wieder von beiden Seiten untergehakt und in die Richtung gebracht, in die Schwester Anne gedeutet hatte. Selbige folgte ihnen. 

Das Unbehagen in Mel wurde mit jedem Schritt größer. Wenn Paddy ihr beim Umziehen helfen würde, würde alles rauskommen, aber sie wollte das nicht! Sie wollte lieber die tollpatschige Mel sein als schon wieder...Sie schluckte...das Opfer. Sie würde alleine damit klarkommen können! Irgendwie. Doch jedes Mal, wenn ihre Augen zufielen, zweifelte sie an ihren eigenen Gedanken. Das schlimmste war, dass Frank recht hatte! Sogar jetzt hatte er nichts getan, das ihn für immer in den Knast bringen würde. Wozu sollte sie es dann noch anzeigen? Damit er seine Drohung wahrmachen würde? 

Ihre Schritte wurden immer langsamer, bis sie schließlich stehen blieb. 

„Alles klar?“ Paddy betrachtete ihre unglückliche Mimik.
„Ja, mir ist nur nicht ganz wohl.“ Sie blickte weiter zu Boden und in dem Moment, als sie den Kopf hob, schob die Schwester ihr schon vorsichtig einen Rollstuhl in die Kniekehlen, auf den sie sich wie in Zeitlupe herabsinken ließ. „Danke! Ich denke, es reicht, wenn Schwester Anne mich begleitet.“ 

„Kommt gar nicht in Frage. Ich komme mit!“, protestierte Paddy sofort und auch die Schwester hatte Einwände, schließlich musste sie eigentlich in den Empfangsbereich zurück, doch dann registrierte sie Mels eindringlichen Blick. 

„Tini! Kannst du hier vorne mal kurz übernehmen?“ Nur Sekunden später kam eine junge Schwester mit langen braunen Haaren aus dem Personalaufenthaltsraum. Sie erinnerte Mel stark an Caro. Sie schluckte das seltsame Gefühl im Bauch hinunter und warf Schwester Anne einen dankbaren Blick zu. 

Kaum berührte ihr Gesäß die Sitzfläche, ging die Fahrt auch schon los, bis sie bald darauf in einem kleinen Untersuchungsraum ankamen. 

Doch die beiden Herren folgten ihnen auf dem Fuße, was die Schwester in geübter Schwesternmanier abwiegelte. 

„Entschuldigen Sie uns eben, es wird einen Augenblick dauern. Der Arzt wird auch gleich kommen und dann laufen noch Untersuchungen. Wir melden uns bei Ihnen. Nehmen Sie ruhig so lange im Wartebereich Platz oder besser noch...“ Sie sah Paddy und Joey nacheinander an, bevor sie weitersprach. „…Sie ziehen sich ebenfalls etwas Sauberes und Trockenes an.“ Dann schloss sie die Tür und drehte sich auf dem Absatz um. 

„Alles klar bei Ihnen?“ 

Mel nickte und wollte aufstehen, doch Schwester Anne hielt sie zurück. „Bleiben Sie sitzen! Ich wollte mir zuerst ihren Kopf ansehen.“ Sie ließ den Türgriff los, ließ sich am Wandspender Unmengen von Desinfektionsmittel über die Hand laufen und ging zu Mel hinüber. Während sie die stinkende Lösung routiniert sorgfältig auf ihren Fingern verteilte und einrieb, war sie bereits dabei, Mels Kopfhaut zu inspizieren. 

„Da sind noch mehr Narben, die aber schon gut verheilt sind. Allzu alt dürften die aber auch nicht sein, oder? Was ist da passiert?“ 

Mit einem durchdringenden Blick erwartete sie nun Mels Antwort. 

„Da bin ich vor ein paar Wochen gestürzt.“ 

Sie nickte bedächtig. „Sagten Sie nicht, sie seien heute auch gestürzt?“ 

„Ja“, antwortete sie leise und merkte, wie blöde das klang. 

„Sie stürzen ganz schön häufig…“ Sie richtete sich auf und begann das Pflaster zu lösen, um die Wunde zu desinfizieren. 

Zischend sog Mel die Luft ein, als die Stelle abgetupft wurde. 

„Da hat es sie aber heftig erwischt.“

„Ja, da war irgendwie ein Stein.“ 

„Gibt es viele Steine in ihrer Gegend?“ 

Mel runzelte die Stirn wegen ihrer seltsamen Frage. 

„Wie meinen Sie das?“ 

Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, sprach Schwester Anne ganz ruhig weiter, beobachtete Mel aber in einem in der Nähe befindlichen Spiegel. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber Sie haben alte Narben, frische Narben und wollen nicht, dass ihr Mann sie weiter begleitet und sagen, dass Sie gestürzt seien. Sie wären nicht der erste Fall von häuslicher Gewalt, der mir hier begegnet.“

Mel sperrte den Mund auf, um ihr zu widersprechen, doch da kniete sich die Schwester schon auf Augenhöhe zu ihr hinunter. Ungefragt nahm sie Mels Hand. Sie war schweißnass. 

„Irgendwas stimmt doch nicht! Möchten Sie, dass ich die Polizei rufe?“

„Was? Nein! Keine Polizei!“ Mels Antwort kam verdächtig schnell, wie aus der Pistole geschossen. Ähnlich schnell wie die Tränen in ihre Augen. 

„Wieso?“ Die Schwester kannte unzählige Antworten auf diese Frage, doch sie wollte Mels hören. 

„So ist das nicht! Mein Mann liebt mich!“ 

„Das tun sie meistens. Auf ihre Art und Weise.“ 

Sie stand auf und wandte sich wieder Mels Hinterkopf zu. „So, das Desinfektionsmittel sollte nun wirklich trocken sein. Jetzt haben wir es gleich.“ Mel spürte ein kurzes Ziehen an der Haut und schon saß der neue Verband. 

„Er liebt mich wirklich und ich ihn! Er hatte nichts damit zu tun! Ich bin wirklich gestürzt!“, beteuerte Mel und dann wurde ihr tränennasses Gesicht blass. „Oh, mir wird wieder schlecht!“ 

Sofort wurde ihr ein Spuckbeutel vor die Nase gehalten, in den sie sich auch tatsächlich erbrach. Doch alles, was noch kam, war Gallenflüssigkeit. 

Schwester Anne entsorgte den Beutel und reichte ihr stattdessen ein feuchtes Tuch. 

„Warum sind Sie dann so aufgelöst?“ 

Doch diesmal antwortet Mel nicht und die Schwester drängte sie nicht weiter. 

„So, jetzt müssen Sie wirklich aus den nassen Sachen raus. Ich gehe davon aus, dass Dr. Schmelling sie über Nacht zur Beobachtung hier behalten möchte. Ist das okay für Sie?“ 

Mel nickte, während sie sich die Tränen abwischte. 

„Dann gebe ich Ihnen ein Flügelhemd. Keine Sorge, die kann man inzwischen auch besser schließen. Außerdem kann ich Ihnen noch einen prima Bademantel anbieten. Nicht flauschig, aber dafür blickdicht! Na, wie klingt das?“ Sie nickte Mel aufmunternd zu. 

„Ganz gut, danke.“ 

Sie nahm das Hemd in die Hand und legte es vor sich auf die Untersuchungsliege. Bewusst drehte sie der Schwester den Rücken zu, als sie sich vorsichtig die Hose herunterzog. Dieses Mal war es Schwester Anne, die scharf die Luft einsog. Mel fühlte, wie ihr eine Hand auf den Rücken gelegt wurde und zuckte jäh zusammen.

„Was ist mit Ihnen passiert?“ Der Tonfall der Schwester hatte sich geändert, was Mel unmittelbar spürte. 

„Ich bin gest…“ Mel blickte über ihre Schulter und sah den Spiegel hinter sich. Und sie sah, dass die Rückseite ihrer Beine und ihr Gesäß noch schlimmer aussahen, als ihr Schoß. 

„Oh Gott…“ Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund und schluckte sowohl den Rest des Satzes als auch die erneut aufsteigende Galle wieder hinunter. 

„Mel, Sie sind nicht gestürzt, oder?“ 


 „Doch“, entgegnete Mel schniefend. „Das bin ich.“ Sie zog ihre nasse Hose wieder ein Stück nach oben und setzte sich vorsichtig auf die Untersuchungsliege. Mit einem leisen Geräusch zerriss das Schutzpapier unter ihrem Po. 

Schwester Anne nahm neben ihr Platz und reichte ihr ein Tuch für die laufende Nase. Nachdem Mel sie sich geputzt hatte, holte sie tief Luft, um die Fassung wiederzuerlangen. „Ich hab versucht wegzukommen! Aber er war stärker und ich nicht schnell genug! Ich konnte nichts dagegen machen! Ich hab trotzdem weiter versucht, wegzukommen und dann bin ich weggerutscht.“ Mel erzählte, die Augen starr geradeaus gerichtet, doch als Anne ihre Hand nahm, schloss sie ihre Finger um ihre. 

„Und dann?“, fragte sie leise und spürte wie Mels Körper neben ihr zitterte. 

„Dann ist mein Kopf aufgeschlagen und ab da weiß ich nichts mehr!“, flüsterte sie, weil sie Schwierigkeiten hatte, überhaupt einen Ton an dem Kloß in ihrem Hals vorbeizubekommen.

„Du liebst ihn trotzdem?“ 

Dass die Schwester plötzlich anfing sie zu duzen, störte Mel nicht. Ganz im Gegenteil. 

Mel riss die Brauen hoch. „Was? Nein!“ Doch dann begriff sie. „Es war nicht mein Mann! Wirklich nicht!“ 

„Warum durfte er dann nicht mit hereinkommen?“ 

„Er weiß nicht, was passiert ist! Er soll es auch nicht wissen!“ Erneut quollen salzige Rinnsale über ihre Wangen. 

„Aber hat er nicht ein Recht darauf zu wissen, was mit dir passiert ist?“ 

Mel zuckte mit den Schultern. 

„Du kannst doch nicht alleine damit fertig werden! Und ihm etwas vorzuspielen wird dich Unmengen an Kraft kosten.“ 

„Ich weiß.“ Sie wischte mit dem Taschentuch ihre Nase ab. „Aber im Moment…“ 

Plötzlich klopfte es und im selben Moment ging die Tür auf und Paddy stand vor ihnen. „Kann ich reinkommen? Patricia hat…“ Doch Schwester Anne war blitzschnell aufgesprungen und hatte sich, breitschultriger als sie eigentlich war, vor ihm aufgebaut. „Bitte verlassen Sie sofort den Raum! Wir sind hier noch nicht fertig!“

„Aber…“

„Kein aber! Bitte nehmen Sie noch einen Moment draußen Platz und danke dafür.“ Dann griff sie nach dem Stapel Kleidung, den er in der Hand trug, schob ihn rückwärts auf den Flur und schloss die Tür wieder. 

Irgendwie tat er Mel leid, aber sie war der Schwester auch unendlich dankbar. 

„Danke“, murmelte sie leise und die Schwester nickte.

„Dann können wir dir auch gleich die eigenen Sachen anziehen. Möchtest du, dass ich dir helfe?“ 

Mel nickte zögernd. „Ja, bitte. Ich würde mich auch gerne waschen.“ 

Schwester Anne seufzte. „Hör mal, Mel. Das ist natürlich deine Entscheidung, aber ich rate dir wirklich, Anzeige zu erstatten.“ 

„Das hat doch keinen Sinn“, erwiderte sie leise.  

„Weißt du denn, wer es war? Ich meine, kennst du ihn?“ 

„Ja. Mehr oder weniger. Aber er wird alles abstreiten!“, gab sie zögernd zu.

„Und genau deshalb solltest du dich untersuchen lassen, damit mögliche Spuren gesichert werden können und dein Zustand offiziell dokumentiert wird!“ 

„Sie meinen jetzt gleich?“ 

Die Schwester nickte. „Natürlich. Sonst läufst du Gefahr, dass mögliche Beweise verschwinden.“ 

Beide schwiegen einen Moment, dann nickte Mel wortlos. 

Anne griff zum Telefon auf dem Schreibtisch. „Hi, ich bin's. Annemarie hat heute Bereitschaft, richtig? Super! Ich bräuchte sie in der Notaufnahme.“ Dann legte sie auf und wandte sich wieder an Mel. „Frau Dr. Ilas kommt gleich vorbei. Sie ist Gynäkologin und würde dich gleich untersuchen.“ 

Zaghaft stimmte Mel wieder zu. 

„Möchtest du nicht doch, dass ich eine Polizeibeamtin dazuhole?“ 

„Aber das bekommt meine Familie doch dann mit!“ 

„Irgendwann musst du doch mit deinen Lieben reden, aber für heute Abend gibt es eine Lösung. Man kann auch durch den Hintereingang bis hierher kommen.“ 

„Okay, dann…“ Weiter kam Mel nicht. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht hinter ihren Fingern, die aufsteigende Panik bekam sie einfach nicht unter Kontrolle! Sie hatte bereits im Sommer eine ähnliche Situation zu Protokoll bringen müssen, doch das hier würde noch schlimmer werden! 

Dann klopfte es wieder an der Tür, doch statt der Ärztin stand der angekündigte Dr. Schmelling in der Tür. Freundlich stellte er sich vor und begann gleich mit ein paar neurologischen Tests, danach wurde noch ein CT gemacht. 

Gerne hätte sie erst die Klamotten gewechselt und sich untersuchen lassen, dann hätte sie das wenigstens hinter sich gehabt, aber der Neurologe betonte, dass Probleme mit dem Schädel und dem Gehirn auszuschließen wichtiger wäre. 

 

Schließlich kam Mel wieder zurück in den Wartebereich. Obwohl die eigentlich kurze Untersuchung fast drei Stunden gedauerte hatte, saßen nach wie vor Paddy und Joey, Angelo und Patricia auf den unbequemen Stühlen, von denen sie abrupt aufsprangen, als sie auf sie zukam. 

„Da bist du ja! Wie geht es dir?“ Patricia war sofort an ihrer Seite und nahm ihre die Hand, doch das Laufen schien ihr inzwischen leichter zu fallen. 

„Es geht, danke.“ Sie lächelte mild, doch Paddy konnte sofort erkennen, dass sie viel geweint hatte. 

„Hast du noch Schmerzen?“ Auch Paddy war wie der Wind an ihre Seite geeilt. Erleichtert sie endlich wiederzusehen. Die lange Untersuchungsdauer hatte ihn zunehmen nervös gemacht. 

Mel schüttelte den Kopf. „Kaum noch. Die haben tolle Schmerzmedis hier!“ Sie rang sich ein Lächeln ab. 

„Wieso hat das denn so lange gedauert? Haben die was Schlimmes festgestellt?“ 

„Ich hab eine Gehirnerschütterung. Die wollen mich gerne zur Beobachtung bis morgen hier behalten.“

„Das habe ich mir schon gedacht und Lea auch“, erwiderte Patricia. „Sie lässt dich schön grüßen und ausrichten, dass sie nicht fährt, bevor du nicht zu Hause bist.“

Paddy sah seine Schwester erleichtert an. „Gut, das beruhigt mich. Morgen geht’s ins Studio.“ 

 

 

 



Kommentare: 4
  • #4

    Pw (Freitag, 03 Juni 2022 21:34)

    Hallo Nicole!
    Vielen Dank für deine Nachricht! Ich hab mich sehr gefreut! Nicht wundern, mir ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Das neue Kapitel gehört natürlich in einen neuen Abschnitt. Das muss beim Dreinkopieren passiert sein.
    Liebe Grüße und schöne Pfingsten!
    Pw

  • #3

    Nicole (Donnerstag, 02 Juni 2022 01:51)

    Hallo PW,
    toll, dass du endlich weiter geschrieben hast. Ich hoffe, dass du bald neue Kapitel hochlädst! �

  • #2

    Pw (Montag, 23 Mai 2022 22:59)

    Hallo Theresa!
    Vielen Dank! Es tut tatsächlich gut zu lesen, dass es noch jemanden da draußen gibt! Vielen Dank dafür! ☺️ Ich hab noch einiges in peto. Es geht bald weiter. :) liebe Grüße Pw

  • #1

    Theresa (Montag, 23 Mai 2022 13:45)

    Hallo PW,
    Wollte einfach mal eine Nachricht hinterlassen, das du siehst das noch jemand liest � finde es toll, das es weiter geht und freue mich auf neue Kapitel! �
    Liebe Grüße